Herr Hauprich, Housing First gilt in Deutschland als recht neues Konzept in der Wohnungslosenhilfe. Was unterscheidet Housing First von anderen Hilfen?
KAI HAUPRICH: Der große Unterschied ist, dass wir den obdachlosen Menschen nicht ihre Selbstbestimmung nehmen. Wer über ein Housing-First-Angebot eine Wohnung bekommen hat, musste davor nicht erst schauen, dass er sein Leben neu ordnet oder vorgegebene Hilfeziele erreicht. Ich als Sozialarbeiter sage den Menschen nicht: "Ich glaube, Sie brauchen mal eine Tagesstruktur und hören Sie bitte mit dem Trinken auf." Das fühlt sich dann – völlig zu Recht – für die Menschen nicht so an, als würde man auf Augenhöhe mit ihnen sprechen. Das ist reine Fremdbestimmung. Manche möchten sich in Obdachlosenunterkünften auch kein Zimmer teilen. Andere würden gerne ihre Partnerin oder ihren Partner mitnehmen. Häufig geht das bei anderen Angeboten nicht. In aller Regel knirscht es im Hilfesystem, weil Obdachlose nicht ständig durch verschiedene Hilfen weitergereicht werden möchten. Oder wenn sie sagen: "Wenn das die Rahmenbedingungen sind, bleibe ich lieber auf der Straße." Housing First ist wissenschaftlich nachgewiesen das leistungsstärkste Konzept, um Straßenobdachlosigkeit zu überwinden. 90 Prozent der Menschen bleiben dauerhaft in ihren Wohnungen. Wenn wohnungslose Menschen schließlich eine Wohnung haben, erarbeiten sie häufig auch in anderen Bereichen Lösungen.
Wie ist das Konzept entstanden?
HAUPRICH: In den USA kam in den 90er Jahren der Grundgedanke auf, Menschen zu helfen, die aus allen Systemen gefallen sind. Insbesondere dann, wenn sie zusätzlich zur Wohnungslosigkeit noch schwer suchtkrank oder psychisch krank waren. Man hat aufgehört, nur Vermutungen anzustellen, was Obdachlose brauchen, und hat sie stattdessen gefragt, was sie am dringendsten benötigen. Einen Schlafsack? Eine Beratung? Eine Wohnung? Häufig haben sie dann gesagt: Am meisten würden sie sich ein echtes Zuhause wünschen. Einen sicheren Raum, in dem sie sich aufhalten und sie selbst sein können. In Finnland wurde das Konzept weiterentwickelt. Das führte dazu, Straßenobdachlosigkeit dort sehr schnell auf ein sehr niedriges Niveau zu bekommen.
Welche Voraussetzungen sollten gegeben sein, damit obdachlose und wohnungslose Menschen über Housing First eine Wohnung bekommen?
HAUPRICH: Jemand äußert zunächst den Wunsch, wieder in einer eigenen Wohnung zu leben und willigt ein, sich in der Hausgemeinschaft an alle Regeln zu halten – so, wie wir es von unseren Nachbarinnen und Nachbarn in Mietshäusern auch erwarten. Das sind die Rahmenbedingungen. Wichtig ist, dass unser Gegenüber schon mit einer Idee auf uns zukommt; dass es einen Veränderungswunsch gibt. Housing First ist ein Hilfsangebot, der Auftrag kommt aber von den Menschen selbst. Wenn die Person sich vielleicht wünscht, die eigene Familie wieder zu sehen, sich um die Gesundheit zu kümmern oder einfach in einer eigenen Wohnung in Frieden zu leben, dann leisten wir dabei die Unterstützung, die die Menschen noch brauchen. Denn: Es heißt "Housing First", nicht "Housing Only".
Wie erfahren obdachlose Menschen von Housing First?
HAUPRICH: Wir gehen nicht auf die Straße und sagen: "Du, du und du, ihr kommt jetzt mit und bekommt eine Wohnung." Obdachlose wenden sich an uns, und wenn wir einen Platz im Angebot frei haben und die genannten Kriterien erfüllt sind, dann bekommen sie den im Normalfall auch. Grundsätzlich haben aber obdachlose Menschen Vorrang, die größere Probleme haben. Zum Beispiel, wenn sie schwer suchtkrank sind, schon seit vielen Jahren auf der Straße leben und/oder psychische Probleme haben. Wenn es nicht direkt klappt, ein Problem anzugehen, ist das nicht schlimm. Die Menschen fliegen bei uns dann auch nicht raus. Dann probiert man es eben noch mal, wenn das gewünscht ist. Wir erreichen so auch viele Menschen, die sich angeblich gar nicht mehr helfen lassen wollten und heute häufig als "Systemsprenger" diffamiert werden. Das Unterstützungsangebot bei Housing First basiert auf Freiwilligkeit – und darin liegt ein entscheidender Schlüssel zum Erfolg.
Die Bundesregierung arbeitet an einem Aktionsplan. 2030 soll in Deutschland niemand mehr wohnungs- oder obdachlos sein. Ist das realistisch?
HAUPRICH: Wenn der politische Wille wirklich vorhanden wäre und alle Akteure an einem Strang ziehen würden, wäre es realistisch, ja. Es wäre mit vielen Anstrengungen verbunden, aber im Hinblick auf Obdachlosigkeit möglich. Wenn wir uns jetzt einfach mal auf die Menschen fokussieren, die wirklich keine Unterkunft haben, also auch nicht bei Freunden leben können und auch nicht anderweitig untergebracht sind, dann reden wir von 50.000 Wohnungen. Ziel der Regierung ist es, Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden. Wenn die Politik es jetzt ernst nehmen würde, das Problem der Straßenobdachlosigkeit auch wirklich zu lösen, dann halte ich das für keine so wahnsinnig hohe Zahl. 50.000 Wohnungen auf ganz Deutschland verteilen über sieben Jahre, das ist zu schaffen. Momentan ist es so, dass bezahlbare Wohnungskontingente, die neu angeboten werden, gießkannenmäßig auf alle möglichen Gruppen verteilt werden: Seniorinnen und Senioren, Studierende und auch andere Gruppen, die dringend Wohnraum benötigen. Aber obdachlose Menschen haben so keine vernünftige Chance, überhaupt an eine Wohnung zu kommen. Und das muss sich ändern. Um das Ziel zu erreichen, wäre es wichtig, dass Obdachlose einen geschützten Zugang zu Wohnungen erhalten. Diese Priorisierung wäre dringend nötig. Denn diese Personengruppe ist aktuell absolut unversorgt.
Laut einer Hochrechnung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe waren 2022 besonders viele Menschen in Deutschland wohnungs- oder obdachlos: 607.000 Menschen. 224.000 mehr als im Jahr zuvor. Wie lässt sich das erklären?
HAUPRICH: Es gibt erst seit Kurzem offizielle Zahlen hierzu. Die Zahl der wohnungs- und obdachlosen Menschen steigt aber schon seit den 1990er-Jahren kontinuierlich. Hintergrund ist: Die Politik hat den Wohnungsmarkt zunehmend sich selbst überlassen. Geförderte Wohnungen fallen aus der Preisbindung, fehlen schließlich – und die Armut steigt. Sucht man eine Wohnung, ist der Konkurrenzdruck enorm hoch. Selbst dann, wenn man genug Geld hat, stabil im Leben steht und einen guten Eindruck bei Vermieterinnen und Vermietern macht. Ein Aspekt ist dabei wichtig: Wohnungen haben auch schon gefehlt, bevor Menschen nach Deutschland geflüchtet sind. Häufig greifen Populisten das Argument auf, Geflüchtete würden Deutschen die Wohnungen wegnehmen. Fakt ist: In den 90er Jahren hatten wir noch drei Millionen geförderte Wohnungen. Inzwischen sind es nur noch eine Million. Wo sollen die Menschen denn in der Zwischenzeit alle untergekommen sein? Unter den wohnungslosen Menschen sind etwa zehn bis 15 Prozent obdachlos. Aber alle Menschen haben ein Recht auf Wohnen.
Housing First allein wird das Problem der Obdachlosigkeit auf die Schnelle wohl nicht lösen.
HAUPRICH: Nein – weil die Housing-First-Angebote noch nicht ausreichen werden. Wir haben deutlich mehr Anfragen als Plätze und können deshalb momentan bundesweit nur einem kleinen Teil der obdachlosen Menschen ein Angebot machen. In den vergangenen Jahren wollte sich die Politik bei Housing First immer nur Modellprojekte leisten. Sie hat nicht daran geglaubt, dass es funktionieren kann und dachte: Lasst uns mal mit ein, zwei Sozialarbeiterinnen und -arbeitern arbeiten. Dann schauen wir, was passiert und lassen wissenschaftlich evaluieren, ob das überhaupt funktionieren kann. Deshalb haben wir grundsätzlich nur begrenzte Kapazitäten. Wenn man alle Projekte zusammenrechnet, sind in ganz Deutschland inzwischen aber schon mehr als 500 Menschen durch Housing First zu einer Wohnung gekommen. Trotz aller widrigen Umstände. Und das macht uns zuversichtlich. Daher bleiben wir dran.
Zur Person
Kai Hauprich, 35, ist Sozialarbeiter und Vorsitzender des Bundesverbands Housing First. In Köln leitet er das Housing-First-Projekt und ist stellvertretender Geschäftsführer bei der Kölner Wohnungslosenberatungsstelle Vringstreff. In seiner Doktorarbeit hat er als einer der Ersten in Deutschland die Handy- und Internetnutzung von wohnungslosen Menschen erforscht.