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Interview: Historiker Wolffsohn: Netanjahu ist ein "Machtmensch durch und durch"

Interview

Historiker Wolffsohn: Netanjahu ist ein "Machtmensch durch und durch"

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    Michael Wolffsohn erklärt das Ergebnis der israelischen Parlamentswahlen auch mit der Radikalisierung weiter Teile der Gesellschaft.
    Michael Wolffsohn erklärt das Ergebnis der israelischen Parlamentswahlen auch mit der Radikalisierung weiter Teile der Gesellschaft. Foto: Ulrich Wagner

    Benjamin Netanjahu hat es wieder geschafft. Doch reichen wird es für ihn nur mithilfe eines in Teilen rechtsextremen Bündnisses. Ist das nicht ein Menetekel für Israel?
    Michael Wolffsohn: Nein, denn: Die seit Jahrzehnten, genauer: spätestens seit 1967 gewachsene nationalistisch-religiöse Allianz in der israelischen Gesellschaft und damit in der Politik ist nicht Aktion, sondern Reaktion auf die Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit heißt palästinensischer Krieg, hybrider Krieg, Guerilla, Terror gegen Israel. Sogar die meisten arabischen Staaten sind dieser palästinensischen Methode überdrüssig und kooperieren offen oder noch verdeckt mit Israel. Von 1967 bis 2008 gab es zig Angebote Israels, auf alle oder fast alle 1967 eroberten Gebiete einschließlich Ostjerusalems zu verzichten. Nein, war die Antwort der palästinensischen Führer und ja zur Gewalt. Der 2005 zuerst und zuletzt gewählte „Präsident“ organisiert Gewalt nicht aktiv, billigt sie aber. Das alles hat weite Teile der israelischen Gesellschaft radikalisiert.

    Itamar Ben-Gvir, der mehrfach wegen rassistischer Hetze vor Gericht stand, werden Chancen auf den Posten eines Ministers für Innere Sicherheit eingeräumt. Was könnte das für Folgen haben?
    Wolffsohn: Auch ich finde Ben-Gvir unerträglich, aber deshalb darf ich Verstand und Wissen nicht ausschalten. Die besagen: Die bisherige Anti-Terror-Strategie Israels, in und aus Israel, war bislang eher reaktiv. Ihr Erfolg war begrenzt, denn palästinensischer Terror, Messer-/ Überfahrmorde oder Gaza-Raketen ebbten nie wirklich ab, sondern hörten bestenfalls nach israelischen Gegenschlägen zwischendurch auf. Während des jüngsten Wahlkampfes nahmen antiisraelische Attacken sogar zu. Das war, wie stets seit 1967, Wasser auf Mühlen der israelischen Falken. Deshalb dürfte Israels Anti-Terror-Strategie jetzt präventiv offensiv werden.

    Halten Sie dies für zielführend?
    Wolffsohn: Auch mir gefällt diese analytische Schlussfolgerung und Prognose nicht. Sie hat jedoch den analytischen Vorteil, nicht vom Wunschdenken, sondern der Wirklichkeit geprägt zu sein. Vielleicht gilt hier, was schon der gute alte Clausewitz wusste: Krieg hat den politischen Zweck, dass der Gegner den Kampf nicht mehr fortsetzen kann. Rein militärisch könnte Israel – anders als Putins Russland die Ukraine – in kurzer Zeit die Palästinensergebiete in Schutt und Asche legen. Das werden auch Netanjahu, Ben Gvir & Co nicht machen. Das wäre ethisch völlig inakzeptabel, aber auch außenpolitisch töricht. Ich nehme an, dass als Reaktion auf künftigen Raketenbeschuss oder sozusagen herkömmlichen Terror Israel den Alltag der Palästinenser zusätzlich und massiv erschweren wird. Zum Beispiel: Stopp der bisherigen Lieferung von Wasser, Strom, Lebensmitteln, medizinischen Gütern, Materialien. Hahn zu. Sobald Raketenbeschuss und Terror aufhören, Hahn auf. Alles unschön, aber alle bisherigen Ansätze haben beiden Seiten keinen Frieden gebracht. Man verwechsele meine Analyse und Prognose nicht mit meinen Wünschen.

    Nicht nur in Israel wird mit Besorgnis registriert, dass der rechtsextreme Politiker Itamar Ben-Gvir voraussichtlich Mitglied der neuen israelischen Regierung sein wird.
    Nicht nur in Israel wird mit Besorgnis registriert, dass der rechtsextreme Politiker Itamar Ben-Gvir voraussichtlich Mitglied der neuen israelischen Regierung sein wird. Foto: Ilia Yefimovich, dpa

    Wie erklären Sie sich den offensichtlichen Rechtsruck bei den Wahlen? Haben moderate und liberale Kräfte versagt?
    Wolffsohn: Ich denke, die Frage oben beantwortet zu haben. Ich füge hinzu: Die Gründung des Jüdischen Staates war und ist die notwendige und logische Schlussfolgerung aus einer rund zweitausendjährigen Kette von Leid, Verfolgung und Ermordung. Israel als Lebensversicherung von, für und durch Juden. Anders als zweitausend Jahre lang können sich die Juden gegen diejenigen wehren, die sie auslöschen wollen. Die moderaten und liberalen Kräfte Israels haben es – ich sage: leider, leider – nicht geschafft, den friedlichen Alltag in dieser Lebensversicherung zu schaffen. Sie haben versucht, Nachgiebigkeit und Härte miteinander zu verbinden. So etwas wie eine Halbschwangerschaft zu erzeugen. Leider funktioniert so etwas auch in der Politik nicht. Deshalb meint nun die Mehrheit der israelischen Wähler, dass Härte ohne Nachgiebigkeit zum Erfolg führt. Wer hat Recht? Hier sagen fast alle: die nicht. Okay. Finde auch ich sehr sympathisch. Doch ist das Sympathische auch realistisch?

    Wie soll es in Zukunft gelingen, das weitere Auseinanderdriften jüdischer und arabischer Israelis zu stoppen? Oder bekommt das Land eine Regierung, die genau diesen Prozess ganz bewusst noch beschleunigen will?
    Wolffsohn: Punkt 1: Haben die liberalen und moderaten Regierungen das Auseinanderdriften verhindert? Leider nein. Punkt 2: Im Alltag Israels gibt es sehr viel jüdisch-arabisches Miteinander. Im menschlich sensibelsten Bereich, im Gesundheitswesen zum Beispiel, herrscht mehr als nur hingenommene friedliche Koexistenz. Täglich lassen sich tausende Juden von arabischen Ärzten und Pflegern sehr gerne behandeln. Umgekehrt lassen sich arabisch-palästinensische Israelis sehr gerne von jüdischen Ärzten behandeln. Auch PLO- und Hamas-Aktivisten. Wenn Gaza- oder Westufer-Palästinenser medizinisch Rat und Tat brauchen, strömen sie nach Israel. Die Wirklichkeit ist erheblich differenzierter als uns Propagandisten oder Kenntnislose mit ihren Phrasen einreden wollen. In meinem Buch „Zum Weltfrieden“ habe ich ein Modell wechselseitiger Autonomie für und in Israel vorgelegt.

    Was treibt Netanjahu an? Sieht er sich auf einer politischen Mission oder geht es ihm in erster Linie darum, dem laufenden Korruptionsprozess zu entgehen?
    Wolffsohn: Er wurde erstmals 1996 Premier, dann 2009. Da gab es keinen Prozess. Er ist Politiker mit Leib und Seele, ein Machtmensch durch und durch. Wie viele Politiker. Ob einem seine Politik gefällt, ist eine andere Frage.

    In Israel wird spekuliert, dass Netanjahu gar nicht daran denkt, in der sich jetzt abzeichnenden Konstellation eine volle Legislaturperiode zu regieren, sondern nach einem oder anderthalb Jahren erneut Neuwahlen auszurufen, um seine Position weiter zu verbessern. Glauben Sie das?
    Wolffsohn: Das sehe ich nicht so, denn seine jetzige Mehrheit ist komfortabel und die neue Koalition inhaltlich im Grundsätzlichen so wenig kontrovers wie wenige Vorgängerregierungen. Er wäre unklug, wollte er diesem Rezept folgen.

    Michael Wolffsohn, 75, ist ein deutsch-israelischer Historiker, Publizist und Buchautor. Der in Tel Aviv geborene Wolffsohn lehrte von 1982 bis 2012 an der Bundeswehr-Universität in München – in der bayerischen Landeshaupt, aber auch in Berlin liegen sein Lebensmittelpunkte.

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