Der Künstler Georg Baselitz hat frühe Bilder neu interpretiert, indem er sie kurzerhand auf den Kopf gestellt hat. Jetzt erscheint Ihr Buch "Ewige Schuld" von 1988 über die deutsch-jüdisch-israelischen Beziehungen mit umfassenden aktuellen Passagen, die blau unterlegt sind. Stellen auch Sie Ihre Sicht auf das Thema auf den Kopf?
Michael Wolffsohn: Der Vergleich mit Baselitz schmeichelt. Danke fürs Kompliment. Aber Sie erwarten hoffentlich nicht, dass ich mir anerkennend auf die Schulter klopfe. Ich denke, dass ich nach wie vor mit beiden Beinen auf dem Boden der Fakten stehe und nichts auf den Kopf stelle.
Sie haben erklärt, dass die Leserinnen und Leser auf diese Weise transparent "Sinn oder Unsinn" Ihrer Analysen von 1988 und zur zweiten Fassung 1993 bewerten könnten. Wie zufrieden sind Sie selbst mit Ihren Analysen von vor 35 bzw. 30 Jahren?
Wolffsohn: Sie wollen also doch Eigenlob herauskitzeln ... Im Ernst: Die damaligen Darstellungen und Analysen waren richtig, mein Optimismus übertrieben. Ich hatte erwartet, dass es der deutschen Gesellschaft und Politik besser gelingen würde, die damals schon wachsende muslimische Minderheit beidseits erfolgreich zu integrieren, deren mehrheitlich unbestreitbaren Antijudaismus zu neutralisieren und so etwas wie die nun starke AfD zu verhindern.
Ihr Optimismus von 1988 über die Entwicklung der deutsch-jüdisch-israelischen Beziehungen ist zu guten Teilen verflogen. Wie kommen Sie zu Ihrer bitteren Bilanz?
Wolffsohn: Ich ergänze das zuletzt Gesagte. Aus unserer wehrhaften Demokratie wurde eine mental weiche und deshalb vor rechten, linken und islamistischen Drohungen oder Gewalt zurückweichende Demokratie. Politik, Justiz und Gesellschaft haben versagt. Extremisten wurden ermutigt, besonders muslimische. Das ungewollte, falsche, doch erzielte Ergebnis: Bei Otto Normalverbraucher gelten alle Muslime als potenzielle Terroristen. Um gegenzusteuern und weil es in der Wählerschaft deutlich mehr Muslime als Juden gibt, erzielte man Ergebnis Nummer zwei, nämlich: Distanz gegenüber Juden und Israel. Trotz aller Betroffenheitsphrasen. Ich bin nicht bitter, die Wirklichkeit ist es. Ich überzuckere nichts.
Viele französische Juden, die sich in Frankreich nicht mehr sicher fühlen, sind nach Israel gezogen. Ist diese Entwicklung auch in Deutschland absehbar?
Wolffsohn: Noch nicht, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Verbale oder körperliche Gewalt gegen Juden wie heute bei uns gab es 1988/93 nicht. Oder eine Documenta, wo Teile der sogenannten Elite ernsthaft darüber diskutieren, ob Bilder, auf denen Juden als Schweine dargestellt werden, antisemitisch sind. Seit Jahren wird über die natürlich antisemitische "Judensau" an der Wittenberger Stadtkirche und anderen Kirchen diskutiert. Wenn es aus dem globalen Süden kommt, soll das plötzlich Kunst sein? Kann, will eine Elite uns Juden so schützen?
Antisemitismus scheint an Boden zu gewinnen. Wie konnte es dazu kommen?
Wolffsohn: Bis zur Wiedervereinigung und die ersten Jahre danach brauchte die Bundesrepublik die Juden als außen- und damit auch exportpolitisches Aushängeschild. Auf diesem stand, im Bild gesprochen: "Alle mal hersehen, wir haben uns seit Hitler grundlegend geändert." Spätestens seit der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder und Angela Merkel spielt Deutschland "Führungsmacht". Wer führt, wirbt selten. Juden werden nicht mehr gebraucht. "Der Mohr hat seine Arbeit getan, er kann gehen." Unkorrekt, ich weiß, aber von unserem großen Schiller.
Sie schreiben, dass die Freundschaft der meisten Israelis zu Deutschland "ehrlich" sei, während viele Deutsche beginnen, der Freundschaft zu Israel überdrüssig zu werden. Woran liegt das?
Wolffsohn: Besonders an den unterschiedlichen Lehren aus der Geschichte. Ich formuliere in eigentlich unzulässigen Verallgemeinerungen: Die Israelis haben erkannt, dass die Bundesrepublik ein wirklich neues, humanes Deutschland ist. Umgekehrt haben sich viele Deutsche einreden lassen, Israel wäre ein brutaler Militär- und Apartheid-Staat. Den Unsinn vom Apartheid-Staat machte 2012 der damalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sozusagen salonfähig. 2017 wurde er mit dem Posten des Bundesaußenministers belohnt. Dass dann auch Otto und Erna Normalverbraucher jenen Unsinn für richtig halten, leuchtet ein. Dann das: Israel und die Jüdische Welt haben in Bezug auf Gewalt als legitimes Mittel der Politik diese Lehre aus der Geschichte gezogen: "Nie wieder Opfer!" Die meisten Deutschen sagen: "Nie wieder Täter!" Diese Formel ist inzwischen Gemeingut. Hier klopfe ich mir, Entschuldigung, nun doch auf die Schulter. Ich war der Erste, der dieses Wortbild in deutsch-jüdisch-israelisches Denken und Vokabular eingeführt hat. Wer zudem dummerweise Israel mit der jetzigen Regierung gleichsetzt, kann sich dem Staat Israel nicht nahe fühlen. Der Staat Israel besteht eben nicht nur aus der jetzigen Regierung, sondern – abgesehen von den israelischen Arabern – aus zwei etwa gleich großen jüdischen Gesellschaftsteilen. Die einen haben "Bibi" Netanjahu & Co. gewählt, die anderen nicht. Letztere demonstrieren gegen diese Regierung und demontieren sie hoffentlich.
Regierungschef Benjamin Netanjahu und sein in Teilen rechtsextremes Kabinett sind dabei, demokratische Grundregeln abzuräumen. Hunderttausende demonstrieren wütend dagegen. Israelische Politiker, Militärs, Historiker und Künstler sehen die Demokratie in ernster Gefahr. Zu Recht?
Wolffsohn: Ja, aber weder unter den Hunderttausenden in Israel noch den zahlreichen Kritikern in Deutschland und woanders wissen alle oder die meisten, was bislang Israels Rechtssystem ist und was gemäß den Plänen von Netanjahus Koalition werden soll. Dennoch: In einer Demokratie ist die Gewaltenteilung zwischen Regierung, Parlament und Rechtswesen geradezu heilig, also zurecht unantastbar. Gegen dieses eherne Gebot verstößt die geplante Rechtsreform, die eine Rechtsrevolution wäre. Dass das Parlament selbst mit seiner absoluten Mehrheit Entscheidungen des Obersten Gerichtes außer Kraft setzen kann, ist inakzeptabel. Das ist die eine Seite. Die andere: All das wäre der erste Schritt zu einer Theokratisierung Israels. Das wollen Netanjahus extrem religiöse Partner. Dann würde Israel das jüdische Gegenstück zur Islamischen Republik Iran. Ein Albtraum. Netanjahu ist alles andere als ein religiöser Extremist, aber er braucht sie, um Premier bleiben zu können. Auf diese Weise wird er zum nützlichen Idioten der Orthodoxie.
Haben Sie die Hoffnung, dass eine neue Auflage von "Ewige Schuld" in, sagen wir fünf Jahren, wieder eine positivere Grundierung haben könnte?
Wolffsohn: Das hängt nicht von mir ab, sondern von der deutschen und israelischen Gesellschaft, Politik und Judikative. Als Historiker bin ich nur Chronist. Ich analysiere und demaskiere Akteure und Aktionen. Das ist meine Pflicht als Wissenschaftler und Publizist. Fakten, nicht Fake.
Zur Person: Professor Michael Wolffsohn, 75, ist ein deutsch-jüdischer Historiker, der viele Jahre an der Universität der Bundeswehr in München gelehrt hat. Gerade erscheinen ist eine komplett überarbeitete Neuauflage seines Werkes "Ewige Schuld" von 1988 mit hinzugefügten Ergänzungen im Verlag Langen Müller, 365 Seiten, 24 Euro