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Interview: Historiker: "Hamas-Massaker ohne Einflüsse Nazi-Deutschlands kaum denkbar"

Interview

Historiker: "Hamas-Massaker ohne Einflüsse Nazi-Deutschlands kaum denkbar"

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    Raketen werden aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert.
    Raketen werden aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert. Foto: Francisco Seco, AP/dpa (Archivbild)

    Herr Cüppers, unter dem Titel „Halbmond und Hakenkreuz“ haben Sie zu den Zusammenhängen zwischen dem Dritten Reich, der arabischen Welt und dem Palästina-Konflikt geforscht. Was ist Ihre zentrale Erkenntnis?
    MARTIN CÜPPERS: Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse macht das Buch deutlich, dass die grauenhaften Hamas-Massaker vom 7. Oktober ohne die historischen Einflüsse Nazi-Deutschlands kaum denkbar sind.

    Inwiefern?
    CÜPPERS: Zuerst einmal ist es entscheidend, wahrzunehmen, dass der Nahostkonflikt nicht erst mit der Gründung Israels begonnen hat, wie fälschlicherweise häufig suggeriert wird. Vielmehr entwickelten radikale palästinensische und arabische Fraktionen entscheidende Vorbedingungen bereits in den drei Jahrzehnten zuvor. Ideologisch, politisch, finanziell und nicht zuletzt militärisch unterstützte das nationalsozialistische Deutschland solche Radikalen seit den späten 1930er-Jahren. So wurden auch abweichende arabische Stimmen zum Schweigen gebracht und Grundbedingungen geschaffen, in denen sich der Konflikt zwischen Muslimen und jüdischer Minderheit in Palästina in einer Weise radikalisierte, wie wir ihn in eindeutiger Kontinuität zu damals noch heute wahrnehmen müssen.

    Der Historiker Martin Cüppers  forscht zu den nationalsozialistischen Massenverbrechen, insbesondere zum Holocaust.
    Der Historiker Martin Cüppers forscht zu den nationalsozialistischen Massenverbrechen, insbesondere zum Holocaust. Foto: Martin Cüppers

    Im blinden Hass, im Vernichtungswillen der Hamas-Terroristen, und im Antisemitismus, den manche Muslime jetzt auch auf deutschen Straßen zeigen, stecken also auch Elemente des nationalsozialistischen Judenhasses?
    CÜPPERS: Unbedingt. Der Historiker Saul Friedländer hat für die nationalsozialistische Variante des modernen Judenhasses den treffenden Begriff „Erlösungsantisemitismus“ geprägt. Das beschreibt die verrückte, in Deutschland jedoch Staatsdoktrin gewordene Heilslehre, mit der Beseitigung jüdischer Menschen ganz anders gelagerte, vermeintliche oder reale Probleme und Missstände lösen zu können. Genau diese Form eines „Erlösungsantisemitismus“ fand in Palästina und anderen Teilen der arabischen Welt fanatische Fürsprecher und Anhänger. In historischen Quellen lässt sich der positive Bezug auf Hitler und das nationalsozialistische Deutschland gerade wegen des wahnhaften Judenhasses massenhaft nachweisen. Seitdem dauert im Nahen Osten als Großregion solcher Verschwörungsirrsinn fort und wurde auch nach 1945, als in Europa der Nationalsozialismus besiegt werden konnte, dort nie mehr zurückgedrängt oder auch nur entschieden problematisiert.

    Wie gelangte die NS-Ideologie in die arabische Welt?
    CÜPPERS: Beispielsweise berief sich Amin al-Husseini, Mufti von Jerusalem und damit bedeutendste Autorität in Glaubensfragen, schon 1929 ernsthaft auf das berüchtigte antisemitische Machwerk der „Protokolle der Weisen von Zion“, bekanntlich eine russische Fälschung. Das veranschaulicht, wie Radikale antisemitische Ideologieversatzstücke aus Europa in die muslimische Welt importierten und vor Ort für ihre Zwecke einsetzten. Genau dieser Mufti wurde im Weltkrieg Jahre später einer der bedeutendsten muslimischen Nazi-Kollaborateure. Und als ab 1941 das nationalsozialistische Deutschland mit Rommels Truppen militärisch in der arabischen Welt intervenierte, betonten beide Seiten ihre große Gemeinsamkeit: ebendiesen „Erlösungsantisemitismus“. Von deutscher Seite fand das seinen praktischen Ausdruck in Abermillionen abgeworfener Flugblätter und überaus populären arabischsprachigen Radiosendungen – propagandistische Mittel also, mit denen Judenhass und antidemokratisches Denken massiv im Nahen Osten verbreitet wurden. 

    In Deutschland rebellierte die Jugend in der 68-er Bewegung gegen ihre Elterngeneration, die das Nazi-Regime mitgetragen hatten, das sechs Millionen Juden ermordete. Wie konnte es sein, dass diese jungen, linken, sich als antifaschistisch begreifenden Deutschen, sich auf die Seite extremistischer Palästinenser stellten, im Extremfall zu Terroristen wurden, die Juden angriffen?
    CÜPPERS: Die allermeisten 1968er haben bezeichnenderweise den Holocaust und andere NS-Massenverbrechen als Bezugspunkte ihrer Kritik geflissentlich ignoriert. Stattdessen wurden die „imperialistischen“ USA verteufelt und gleichzeitig kommunistische, von der Sowjetunion oder China verübte Massenverbrechen ausgeblendet. Darin wird der vollkommene Verrat an jeglicher emanzipativer Reflektionsfähigkeit deutlich. Nicht mehr Menschsein oder das Wohl des Individuums standen und stehen bei der antiimperialistisch orientierten Linken im Vordergrund, sondern nur mehr ein vorrangig gegen Demokratien gerichtetes Machtkalkül zugunsten barbarischer Diktaturen. Solche Herzlosigkeit, die Abwesenheit jeglicher Empathie angesichts von Abermillionen Opfern dieser Regime setzt sich bis heute fort. Terroristen, ob von Hamas oder Hisbollah mit dem Iran im Hintergrund, also ausdrücklich selbsterklärte Feinde von Menschlichkeit, werden zu angeblichen Freiheitskämpfern verklärt und deren mörderischer Wahnsinn mit linker Rhetorik sogar noch rationalisiert. Das ist pure Unmenschlichkeit.

    Was muss daraus für den künftigen Umgang des Staates mit arabischem Judenhass folgen?
    CÜPPERS: Als ganze Gesellschaft sind wir gefordert, schlicht jegliche Form von Judenhass zu bekämpfen. Rechts- oder linksextremistischer Antisemitismus oder ein unter dem Deckmantel des Islam hier als Reimport vertretener Judenhass stellt eine unerträgliche Bedrohung für hier lebende Jüdinnen und Juden dar. Das sollte uns alle angehen und mobilisieren, weil ein „Nie Wieder!“ als Imperativ nicht zur bloßen Symbolpolitik verkommen darf.

    Zur Person

    Dr. Martin Cüppers ist wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart und am dortigen Historischen Institut auch Dozent für Neuere Geschichte. Als Historiker forscht er zu den nationalsozialistischen Massenverbrechen, insbesondere zum Holocaust sowie zu den gesellschaftlichen und juristischen Bewältigungsversuchen nach 1945. 2006 veröffentlichte er zusammen mit Klaus-Michael Mallmann die Studie „Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina“.

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