Erinnern Sie sich, wann Sie zum ersten Mal Sequenzen der Sportpalastrede von Propagandaminister Joseph Goebbels gesehen haben? Wie war Ihr Eindruck?
Peter Longerich: Ich kann mich sehr gut daran erinnern. Damals war ich zehn Jahre alt. Ich war im Kino, als völlig unvermittelt eine Vorschau für ein Filmprojekt mit Aufnahmen aus der Goebbels-Rede lief. Die Bilder wirkten auf mich wie aus einer fremden Welt, sie hatten etwas Unheimliches.
Goebbels hat sich akribisch auf seinen Auftritt vorbereitet – bis hin zur Auswahl der Zuhörer oder einstudierten Sprechchören. War die fanatische und niederträchtige Rede genial inszeniert?
Longerich: Also ich würde im Zusammenhang mit Goebbels überhaupt nicht von genial sprechen, dazu war seine Propaganda zu einfach gestrickt und zu sehr durchschaubar. Aber natürlich war die Rede sehr sorgfältig inszeniert. Der Sportpalast wurde von den Nazis seit Ende der 20er-Jahre regelmäßig als Saal für Großveranstaltungen genutzt. Das Publikum bestand im Kern aus alten Berliner Nationalsozialisten. Die wussten, was sie erwartet. Man ging in den Sportpalast, um mal richtig die Sau rauszulassen. Da gab es kaum einen Unterschied zwischen Sportveranstaltungen wie Boxen und propagandistischen Massenkundgebungen.
Wie erklären Sie sich, dass gerade diese Rede so bekannt wurde?
Longerich: Wir kennen ja heute nur die paar Minuten aus der Wochenschau, verfügen aber über die komplette Tonversion. Es handelt sich nicht um eine Rede, die zufällig aufgenommen und zufällig erhalten worden ist. Das wurde ganz bewusst inszeniert, um den damals Lebenden, aber auch der Nachwelt zu dokumentieren, dass das deutsche Volk angeblich diesen totalen Krieg wollte. Insofern ist die Veranstaltung auch ein Höhepunkt in der Kriegspropaganda gewesen. Und ja, das hat natürlich eine langfristige Wirkung.
Goebbels forderte den "totalen Krieg", also radikalere Eingriffe in das zivile Leben, um die Front zu stärken. War das eine verklausulierte Machtprobe mit Hitler oder wollte er ihn nur beeindrucken?
Longerich: Es war eine Machtprobe mit anderen führenden Figuren um Hitler herum, die gegen diese Radikalisierung waren. Er wollte den "Volkswillen" mobilisieren, um Hitler gar keine Alternative zu lassen, als auf seine Seite zu wechseln. Eine offene Konfrontation wäre ja in dem Führerstaat ohnehin nicht möglich gewesen.
Hitler hatte bereits wenige Tage vor der Rede auf die einschneidenden militärischen Misserfolge – wie die Niederlage in Stalingrad – reagiert. In seinem Führer-Erlass ordnete er Maßnahmen an, um mehr Männer an die Front schicken zu können. Es ging um die Stilllegung von nicht kriegswichtigen Produktionsstätten oder die Verpflichtung für Frauen, in Rüstungsbetrieben zu arbeiten. Das reichte Goebbels aber offensichtlich nicht?
Longerich: Goebbels fürchtete, dass die Behörden das nicht in letzter Konsequenz umsetzen. Ihm persönlich ging es nicht so sehr um konkrete Zahlen oder Leistungen. Er wollte ein Klima schaffen, in dem sich jeder aufgefordert, ja gezwungen fühlt, alles, was er von morgens bis abends macht, nur noch für den totalen Krieg zu tun. Er wollte eine massenpsychologische Sogwirkung erzeugen und alle opponierenden Kräfte unter Druck setzen.
Das war die Sportpalastrede
Als "Sportpalastrede" wird die Rede bezeichnet, die der nationalsozialistische deutsche Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943 hielt und in der er zum "totalen Krieg" aufrief.
Der knapp 110 Minuten dauernde Auftritt gilt als perfides Beispiel der Rhetorik der NS-Propaganda. Goebbels versuchte, die Deutschen nach der Niederlage in der Kesselschlacht von Stalingrad davon zu überzeugen, trotz der militärischen Rückschläge den Zweiten Weltkrieg noch radikaler weiterzuführen.
Die Rede, die um 17 Uhr begann, wurde vom Rundfunk um 20 Uhr zeitversetzt gesendet. In der "Wochenschau" wurden einige Sequenzen gezeigt.
Als Goebbels zum Schluss kam, stellte er dem Publikum zehn rhetorische Fragen. Eine von ihnen lautete: "Wollt ihr den totalen Krieg?" Tausende von Zuschauern sprangen auf und schrien: "Ja!"
Ebenso begeistert die Reaktion im Saal, als Goebbels fragte: "Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt vorstellen können?"
Der Sportpalast im Berliner Bezirk Schöneberg, der 1973 abgerissen wurde, war an diesem Abend restlos gefüllt. Im Publikum saßen Minister, Parteigrößen und einfache NSDAP-Mitglieder, aber auch Schauspieler.
Goebbels kokettierte damit, dass sich in der Arena ein Querschnitt der deutschen Bevölkerung versammelt habe. Die Halle war mit Hakenkreuzfahnen und einem Banner mit der Aufschrift "Totaler Krieg – kürzester Krieg" ausstaffiert.
Wie reagierte Hitler?
Longerich: Kurz nach der Rede gratulierte Hitler Goebbels in einem Telefonat. Das war aber mehr eine Pflichtübung. Hitler hatte die Stabilität seiner Herrschaft im Auge. Er fürchtete, dass zu drastische Schwarzmalerei nach Stalingrad die Existenz des Reiches gefährden würde. Er wollte verhindern, dass Verzweiflungsstimmung aufkommt und sich Apathie breitmacht. Goebbels war von Hitler sehr stark abhängig, er brauchte aufgrund seiner narzisstischen Persönlichkeit dessen Zuspruch. Hitler wusste das und hat ihn immer mal wieder gelobt und ihm das Gefühl gegeben, er sei das größte Propagandagenie der Welt.
Welche Wirkung hatte die Rede auf die Bevölkerung?
Longerich: Die Nazipropaganda hat solche Großkundgebungen immer als Riesenerfolg dargestellt. Interessant ist aber, dass die mediale Verbreitung der Goebbels-Rede hinter den Möglichkeiten zurückblieb, die man damals hatte. Ich habe einige offizielle Stimmungsberichte gefunden, die recht skeptisch sind, was die Wirkung der Rede anbelangt, und in denen auch offener Widerspruch angedeutet wird. Und dann habe ich mir private Tagebücher angesehen. Und da sieht man, dass die Rede keine einheitliche Wirkung hat. Also dass dieser Ruck, den Goebbels auslösen wollte, nicht durch das Volk ging. Auch überzeugte Nationalsozialisten schrieben, dass das "alles zu spät" komme und "sowieso nichts mehr wird". Die Atmosphäre, die man für zwei Stunden mit einer Rede in einem geschlossenen Raum erzeugen kann, ist nicht so einfach auf ein ganzes Land zu übertragen.
Was wurde aus Goebbels’ Forderungen nach einem totalen Krieg?
Longerich: Bei Hitler und innerhalb des Regimes gab es nach wie vor große Skepsis gegen eine weitere Radikalisierung der inneren Kriegsführung. Als Goebbels das gemerkt hat, hat er das Thema totaler Krieg zunächst nicht weiterverfolgt. Als im Sommer 1944 dann die nächste große Krise des Regimes eintrat, hat er wieder versucht, auf dieser Welle zu reiten. Und dann wurde er ja auch tatsächlich Generalbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz. Aber da war es ohnehin längst zu spät.
Die antisemitischen Passagen der Rede wurden später weniger beachtet.
Longerich: Dieser totale Krieg war auch ein totaler Krieg gegen die Juden. Das ist eine wesentliche Komponente. Und wenn Goebbels eine antijüdische Bemerkung machte, dann johlte das Publikum. Ein Publikum, in dem das Wissen darüber vorhanden war, dass die Juden ermordet werden. Goebbels signalisierte das ganz bewusst: Ihr wisst ja, was wir gemacht haben, wir können den Krieg auch gar nicht beenden, weil wir sonst dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Nicht von ungefähr malt er das Eindringen von "bolschewistischen Horden" unter jüdischer Führung an die Wand, die das Ende der deutschen Kultur besiegeln würden.
Die Sportpalastrede von Joseph Goebbels liegt 80 Jahre zurück. Propaganda und Manipulation sind noch immer allgegenwärtig. Was hat sich verändert?
Longerich: Solche Szenen wie im Sportpalast gibt es wohl heute nicht mehr. Aber es gibt weiterhin Propaganda in geschlossenen Räumen – auch wenn diese heute virtuell funktionieren –, bei der es darum geht, äußere Einflüsse abzuschalten und ein bestimmtes Publikum zu enthusiasmieren und zu manipulieren.
Zur Person Peter Longerich, geboren 1955 in Krefeld, ist Historiker. Er lehrte als Professor an Universitäten in Deutschland und England. Longerich ist Autor mehrerer Werke über den Nationalsozialismus. Das aktuelle Buch "Wollt ihr den totalen Krieg?", 208 Seiten, ist jetzt im Siedler-Verlag erschienen.
Das Buch Peter Longerich: „Die Sportpalast-Rede 1943“, Siedler, 208 S., 24 Euro.