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Interview: Günzburgerin ist Expertin beim WFP: "Nur wo der Hunger besiegt ist, gibt es Frieden"

Interview

Günzburgerin ist Expertin beim WFP: "Nur wo der Hunger besiegt ist, gibt es Frieden"

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    Ländern wie dem Südsudan gelingt es nicht, den Hunger erfolgreich zu bekämpfen.
    Ländern wie dem Südsudan gelingt es nicht, den Hunger erfolgreich zu bekämpfen. Foto: Sam Mednick, AP/dpa

    Das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen ist am Donnerstag mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden, der wohl renommiertesten politischen Auszeichnung der Welt. Wie fühlt es sich an, in einer Reihe zu stehen mit Martin Luther King, Nelson Mandela, Mutter Teresa oder Barack Obama?

    Christa Räder: Man fühlt sich geehrt und wertgeschätzt. Das World Food Programme ist in der Öffentlichkeit ja eine eher unbekannte UN-Organisation, die in allen Krisengebieten dieser Welt arbeitet. Diese Arbeit hat den traurigen Anlass, dass Menschen von internationaler Hilfe abhängig sind, um ein Minimum zu essen zu haben. Da ist der Friedensnobelpreis eine schöne Anerkennung für die Mitarbeiter, die oft extreme Härten auf sich nehmen.

    Sie arbeiten seit 28 Jahren für das Welternährungsprogramm und lebten unter anderem in Bangladesch, Ägypten, Laos, Sierra Leone und jetzt in Indonesien. Wie hat sich die Welt in dieser Zeit verändert?

    Räder: Es hat sich vieles zum Positiven gewandelt. Beim Thema Bildung zum Beispiel. Es wird in der nächsten Generation sehr viel weniger Analphabeten geben. Das vergisst man gerne, wenn man auf die derzeitigen Kriege und Krisen blickt. Die Zerstörungen zum Beispiel im Jemen oder in Syrien sind durch neue Techniken und neue Medien viel sichtbarer. Doch während die schrecklichen Bilder auf unseren Bildschirmen erscheinen, entwickeln sich viele Länder mit einer jungen Bevölkerung und großer Dynamik weiter.

    Christa Räder ist Landesdirektorin des WFP in Indonesien.
    Christa Räder ist Landesdirektorin des WFP in Indonesien. Foto: Wfp

    Ein gutes Beispiel ist Bangladesch, wo Sie Mitte der 1980er Jahre als Studentin in einem Lehmhaus lebten, um für Ihre Dissertation das Leben der Familien zu erforschen…

    Räder: Aus dem Entwicklungsland Bangladesch mit schwierigsten Bedingungen ist längst ein Schwellenland geworden, das war damals kaum vorstellbar. Es ist sehr beeindruckend zu sehen, welchen Ehrgeiz die Menschen in weiten Teilen Asiens haben. Die Leute nutzen jede Chance, die sich bietet. Und die Regierungen bemühen sich, Strukturen und Systeme zu schaffen, nicht perfekt, aber doch sehr beeindruckend.

    Beeinflusst das Ihre Arbeit?

    Räder: Wir machen heute sehr viel mehr als die direkte Nahrungsmittelhilfe oder Nothilfe nach Naturkatastrophen. Hier in Indonesien zum Beispiel ist – wie in vielen Ländern Asiens – nicht akuter Hunger das Problem, sondern eine dreifache Fehlernährung. 30 Prozent der Kinder sind zu klein und haben keine voll ausgebildeten kognitiven Fähigkeiten – eine Folge von Unterernährung. Gleichzeitig steigt die Überernährung viel zu schnell, ein Drittel der Bevölkerung ist übergewichtig – mit allen negativen Folgen für die Gesundheit. Dazu kommt eine eklatante Mangelernährung.

    Woran liegt das?

    Räder: Die Ernährung ist nicht vielfältig genug. Die Menschen essen zu viele Kohlehydrate, Fett, Salz und Zucker, weil das alles Geschmacksträger sind. Es fehlen die Spurenelemente, das heißt Vitamine und Mineralien. Obst und Gemüse ist häufig zu teuer und auch nicht beliebt.

    Wie reagieren Sie auf diese Entwicklung?

    Räder: Wir analysieren die Daten zur Fehlernährung. Das ist gerade jetzt in der Corona-Krise wichtig, weil wir noch nicht wissen, wie sich der Lockdown und damit das reduzierte Einkommen, die fehlende Bewegung und häufiger Junk-Food-Genuss ausgewirkt haben. In Bangladesch haben wir zum Beispiel ein Pilotprojekt gestartet, bei dem wir Frauen mit Kleinkindern monatlich mit 20 Dollar unterstützt und sie gleichzeitig zum Thema Ernährung geschult haben. Das Ergebnis war, dass die Unterernährung ihrer Kinder signifikant zurückgegangen ist. Und das ist der Unterschied: Früher hat das WFP dafür gesorgt, dass die Leute etwas zu essen haben. Heute versucht man, dazu auch Wissen zu vermitteln.

    Die klassische Nahrungsmittelverteilung gibt es aber immer noch?

    Räder: Natürlich, aber anders. Früher hat man säckeweise Reis und kanisterweise Öl an die Hungernden verteilt. Heute bekommen die Menschen Geld auf Gutscheinkarten gebucht, mit denen sie dann selbst im Supermarkt einkaufen können. Damit können sie selbst auswählen, was sie essen wollen – und stehen nicht mehr als Bettler da. Das ermöglicht den Menschen nicht nur mehr Auswahl, sondern gibt ihnen auch mehr Würde. 100 Millionen Menschen hat das WFP übrigens im vergangenen Jahr mit Geld oder Nahrungsmitteln unterstützt.

    Wie hat sich das Welternährungsprogramm mit seinen rund 20.000 Mitarbeitern weltweit in den letzten 30 Jahren verändert?

    Räder: Es gibt nun viel mehr Frauen beim WFP. Als ich angefangen habe, war das noch ganz anders. Das hat sich seit den 90er Jahren zum Glück sehr gewandelt, heute sind Frauen auch in Führungspositionen ganz selbstverständlich.

    Wie hat sich Ihre Arbeit über die Jahre gewandelt?

    Räder: Nehmen wir das Thema Kommunikation. Die ist sehr viel einfacher geworden. Das Handy hat die Welt revolutioniert. Als ich vor 35 Jahren zum ersten Mal in Bangladesch in die Dörfer gegangen bin, habe ich dort alles fotografiert. Wenn ich heute in ein Dorf komme, stehen da 100 Leute – und fotografieren mich mit ihren Handys. Selbst die Ärmsten sind nun nicht mehr abgeschnitten, sondern wissen sehr genau, wie es woanders aussieht. Das macht sie aber auch unzufriedener, weil sie teilhaben wollen an den Möglichkeiten der ersten Welt.

    Das WFP muss oft als Bittsteller auftreten, weil die Geberländer nicht genügend Zusagen machen oder sie nicht einhalten. In den Flüchtlingslagern rund um Syrien zum Beispiel mussten im letzten Winter die Essensrationen gekürzt werden, weil nicht ausreichend Geld zur Verfügung war. Wird der Nobelpreis das ändern?

    Räder: Das hoffen wir. In der Begründung der Nobelpreis-Jury wird ausdrücklich auf unsere Bedeutung als Friedensstifter hingewiesen. Denn nur wo der Hunger besiegt ist, gibt es Frieden und Stabilität. Das wurde mit dem Nobelpreis dokumentiert. Ich hoffe, dass dadurch nachhaltig die Gelder der Geberländer gesichert sind, die wir brauchen, um den Hunger zu bekämpfen.

    Wie engagiert sich Deutschland im Welternährungsprogramm?

    Räder: Deutschland ist nach den USA der zweitgrößte Geldgeber des Welternährungsprogramms. Über eine Milliarde Euro waren es in diesem Jahr – für humanitäre Krisen und Entwicklungsprogramme. Dies ermöglicht gerade jungen Menschen Perspektiven in ihren eigenen Ländern. Es ist ein großer Ausdruck von internationaler Solidarität, wenn ein Land in der Lage ist und sich auch dafür entscheidet, Gelder für so viele Menschen in Not zur Verfügung zu stellen.

    Was sind die größten Herausforderungen der Zukunft?

    Räder: Der Klimawandel und die damit zusammenhängenden Naturereignisse. Es werden immer mehr Menschen extremen Bedingungen ausgesetzt sein und es wird zu einer noch stärkeren Verstädterung kommen.

    Im Moment kämpft die Welt gegen die Corona-Pandemie. Wie wird Corona die Welt verändern?

    Räder: Das können wir noch nicht abschätzen. Aber vielleicht kommt es nun tatsächlich zu einem gewissen Umdenken – auch dahingehend, ob es notwendig ist, zwei Autos zu haben oder jedes Jahr zweimal in den Urlaub zu fliegen.

    Zur Person: Christa Räder ist Landesdirektorin des WFP in Indonesien. Die 63-jährige gebürtige Günzburgerin wird nach einem Leben in der Ferne im Ruhestand in die Heimat zurückkehren: nach Ulm.

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