Herr Scherf, Sie sind in den vergangenen Tagen bundesweit bekannt geworden, weil Sie davor gewarnt haben, dass nicht nur Sie im unterfränkischen Landkreis Miltenberg mit den vielen Flüchtlingen nicht mehr klarkommen. Worin liegt die Überforderung?
Jens Marco Scherf: Wir haben im vergangenen Jahr rund 2000 Menschen, seit Sommer vor allem aus Syrien und Afghanistan, aufgenommen. Das ist mehr als in den Jahren 2015 und 2016 zusammen, in denen die Flüchtlingsfrage das alles beherrschende Thema war. Ich will das gar nicht als Vorwurf verstanden wissen, aber der Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass die Bundesregierung mit derart vielen anderen Themen beschäftigt ist, dass sie die Unterbringung von so vielen geflüchteten Menschen, die ja nicht nur aus der Ukraine kommen, unterschätzt hat.
Nun hat die Bundesinnenministerin einen Gipfel mit den kommunalen Vertretern angekündigt. Was erwarten Sie davon?
Scherf: Das klingt schon in Ordnung. Aber dieser Gipfel kann nur ein Anfang sein und muss viel konkretere Ergebnisse bringen als das letzte Treffen im Oktober. Austausch und die Bekundung von Betroffenheit allein bringt wenig, Lösungen müssen her.
Wir müssen ganz kurzfristig Probleme angehen und zugleich langfristige Ideen entwickeln, was Integration für uns bedeutet und nüchtern feststellen, was gut funktioniert und was nicht.
Woran hapert es kurzfristig am meisten?
Scherf: Angesichts der vielen Menschen, die zu uns kommen, konzentrieren wir uns notgedrungen auf die Frage, wie wir sie vorübergehend unterbringen. Doch Notunterkünfte sind ja keine Lösung auf Dauer. Außerdem geht es um viel mehr: Wir haben nicht genug Kitaplätze, die Schulen stoßen an Kapazitätsgrenzen, und auch die medizinische Versorgung ist in den ländlichen Räumen eh schon teilweise extrem problematisch.
Was schlagen Sie vor?
Scherf: Es gibt momentan nur eine Lösung, auch wenn das hart klingt: Wir brauchen eine Entlastung der Kommunen bei der Aufnahme von weiteren Flüchtlingen, wir müssen die Zuwanderung begrenzen. Wir haben unsere Leistungsgrenzen erreicht, wir können das nicht mehr verantworten.
Der Landkreistag sieht den Kanzler in der Pflicht. Sie auch?
Scherf: Ja, Olaf Scholz sollte das Thema zur Chefsache machen. Denn die Aufgaben, die vor uns stehen, betreffen so viele verschiedene Bereiche, für die nicht nur das Innenministerium allein zuständig ist.
2015 war oft davon die Rede, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippen könnte. Wie erleben Sie das aktuell?
Scherf: Ich spüre schon, dass viele Bürgerinnen und Bürger besorgt sind. Und zwar nicht nur jene, die einer Aufnahme von Flüchtlingen ohnehin skeptisch gegenüberstehen. Auch Menschen, die sich engagieren, die helfen wollen, fühlen sich zunehmend überfordert mit der Situation.
Sie sind vor allem deshalb in die Schlagzeilen gekommen, weil Sie als Grüner eine Position bezogen haben, die in Ihrer eigenen Partei durchaus auch Gegenwind bedeuten könnte.
Scherf: Mein Austausch sowohl mit der bayerischen Grünen-Spitze als auch mit der Partei- und Fraktionsspitze im Bund ist sehr konstruktiv. Wenn man sagt, die Aufnahme von Flüchtlingen müsse begrenzt werden, fragen natürlich viele: Wie meinst du denn das? Aber in der Sache sind wir uns einig, dass es nicht nur darum gehen kann, die vielen Flüchtlinge aufzunehmen, sondern sie auch menschenwürdig unterzubringen und zu integrieren. Es steht außer Frage, dass wir Menschen in Not helfen müssen. Aber wir müssen eben auch die Kapazitäten haben, ihnen wirklich zu helfen.
Das Gegenargument ist, dass man die Menschen aus humanitären Gründen nicht einfach wieder nach Hause schicken kann.
Scherf: Wenn sich Menschen aus Afghanistan, Syrien oder Afrika über tausende Kilometer, oft mithilfe von kriminellen Schleusern, auf den lebensgefährlichen Weg zu uns machen und wir dann sagen: Respekt, dass du das geschafft hast, jetzt helfen wir dir, hat das auch nicht gerade ein humanitäres Verhalten. Wir dürfen uns da nicht in die Tasche lügen: Wir werden die Probleme in diesen Ländern nicht dadurch lösen, indem die Menschen von dort in extrem großer Zahl zu uns kommen, wir müssen uns auch in den Krisenregionen stärker engagieren.
Zur Person: Jens Marco Scherf, 49, geboren im unterfränkischen Erlenbach am Main, ist seit 2014 Landrat im Landkreis Miltenberg. Bereits zehn Jahre zuvor wurde Scherf Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen.