Herr Bütikofer, gerade hat Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping auf dem Parteikongress seine Macht weiter ausgebaut. Zur selben Zeit wurde bekannt, dass die chinesische Reederei Cosco Anteile eines Containerterminals am Hamburger Hafen kaufen will – mit Unterstützung aus dem Kanzleramt. Wie bewerten Sie das als langjähriger Begleiter der chinesischen Politik?
Reinhard Bütikofer: Xi Jinping hat gerade die absolute Zentralisierung aller Macht der Volksrepublik China in seinen Händen festgezurrt. An seinen imperialen Ambitionen lässt er keinen Zweifel. Da muss der Rest der Welt Vorsicht lernen. Einem autoritären China, und die Reederei Cosco ist ein Staatsbetrieb, Mitkontrolle über unsere sensible Infrastruktur einzuräumen, ist ein Fehler. Alle sechs damit befassten Ministerien raten deshalb ab. Auch die EU-Kommission ist kritisch. Leider meint Olaf Scholz, er wisse das besser.
In Kürze reist der Kanzler mit einer Gruppe von Wirtschaftsvertretern nach Peking. In Brüssel sorgt das für Kritik und Kopfschütteln.
Bütikofer: Das Bemerkenswerte daran ist, dass nicht nur in Brüssel viele den Kopf schütteln, sondern auch viele Ministerien in Scholz’ Kabinett. Wenn er aber schon fährt, dann wird er sich die Frage stellen müssen, welche Signale er bei dieser Reise setzt. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung versprochen, dass wir eine europäische Chinapolitik machen und keine deutschen Alleingänge wie Angela Merkel. Wenn er sich allzu stark auf Merkels Spuren bewegte, setzte er sich in Widerspruch zu dem, was die Koalition verabredet hat. Dieser Besuch sollte wenigstens ein paar wichtige neue Akzente setzen.
Wie könnten die aussehen?
Bütikofer: Als einige EU-Abgeordnete sowie ein Thinktank aus Deutschland letztes Jahr von chinesischer Seite sanktioniert wurden, hat Frau Merkel keinerlei Solidarität gezeigt. Ich könnte mir vorstellen, dass Olaf Scholz das anders macht und zum Beispiel durch die Zusammensetzung seiner Delegation ein positives Zeichen setzt. Dann ist die Frage, ob er Menschenrechte in China allenfalls hinter verschlossenen Türen anspricht oder ob er das auch öffentlich tut. Ob er die Gelegenheit sucht, in einer öffentlichen Rede unsere europäische Perspektive klar zu benennen oder ob er nur zusammen mit den Chefs von großen Unternehmen Merkel as usual abspult. Ob er chinesische Behinderung deutscher Unternehmen und unfaire Handelspraktiken klar anspricht.
Kritiker meinen, die Reise widerspreche der Ansage der EU, sich aus der massiven Abhängigkeit von China lösen zu wollen. Gleichwohl wirkt es auch in Brüssel nicht so, als habe man es eilig. Verpasst es Europa abermals, rechtzeitig die Kehrtwende einzuläuten?
Bütikofer: Es passiert in der Chinapolitik mehr als man auf die Schnelle sieht. Im Bereich der Wirtschaft hat es im letzten Jahr zwar in Summe erhebliche Neuinvestitionen aus Europa nach China gegeben. Bei näherer Analyse zeigt sich aber, dass für 80 Prozent davon nur zehn europäische Konzerne verantwortlich sind, während viele kleinere und mittlere Unternehmen auf die Bremse treten, geplante Investitionen nicht vornehmen oder Investitionen in andere Länder verlagern, also diversifizieren.
Trotzdem, deutsche Firmen wie BASF, BMW oder Siemens bauen ihr Chinageschäft sogar noch aus. Begeht Deutschland denselben Fehler wie mit Russland und macht sein Schicksal abhängig von einem autokratischen Staat?
Bütikofer: Gerade im Bereich der Wirtschaft steht eine Diskussion an. Die deutsche Wirtschaftspolitik kann nicht gleichzeitig in zwei Richtungen segeln. Da muss eine Orientierung gefunden werden, die sich nicht daran bemisst, was dem Vorstandsvorsitzenden eines Großkonzerns gefällt, sondern was der deutschen Volkswirtschaft insgesamt nutzt im europäischen Verbund. An diesem Punkt wird sich entscheiden, ob die Zeitenwende ein begrenzter Lernerfolg bleibt oder ob wir aus der russischen Erfahrung Konsequenzen ziehen, mit wem wir vor allem zusammenarbeiten und wo wir vorsichtig sein müssen. Dabei geht es nicht um angebliche „wirtschaftliche Abkopplung“, vor der Olaf Scholz gewarnt hat. Da erschlägt der Kanzler eine Chimäre. Die Beziehungen zu China dürfen einfach unseren politischen Gestaltungsspielraum nicht untergraben.
Erwarten Sie fundamentale Veränderungen in Xi Jinpings dritter Amtszeit?
Bütikofer: Nein. Mehr vom Gleichen. In Xis Rede waren trotzdem einige Punkte bemerkenswert. So die Ankündigung zur „Securitisation of everything”, also dass die gesamte Innenpolitik zum Sicherheitsthema gemacht wird. Er sprach doppelt so oft von Sicherheit als vor fünf Jahren. Obsessiv identifiziert er überall Sicherheitsrisiken. Die kleinste Abweichung wird unnachsichtig verfolgt. Xi Jinping will dem historischen Trend ein Schnippchen schlagen, wonach es immer irgendwann zu einem Zerfall der Macht kommt. Wie besessen will er seine Macht unangreifbar machen.
Europa muss also mit einer Verschärfung der Situation rechnen?
Bütikofer: Ja, es gibt kein Lockerlassen. Xi Jinping hat auch erkennen lassen, dass die Einmischung der Partei in die Wirtschaft, die zu sehr zweifelhaften Ergebnissen geführt hat, weitergehen wird. Außenpolitisch stach heraus, dass sich Peking ‘selbstverständlich’ vorbehält, Taiwan mit bewaffneter Gewalt unter Kontrolle zu bringen. Dafür gab es Mega-Applaus. Deswegen bleibt die wachsende Aufmerksamkeit für die Frage der Zukunft Taiwans sehr gerechtfertigt.
Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass der Konflikt zwischen China und Taiwan eskalieren könnte?
Bütikofer: Ich teile die Ansicht des früheren australischen Premierministers Kevin Rudd, dem zufolge eine militärische Auseinandersetzung vermeidbar wird, wenn wir es schaffen, eine wirksame Politik der Abschreckung zu verfolgen. Das heißt, der Führung in Peking klar zu machen, dass ein solches Abenteuer mit außerordentlich hohen Kosten für das Land selbst verbunden wäre. Nun spielen die EU-Mitgliedsländer im indopazifischen Raum militärisch keine Rolle. Aber wir könnten politisch und ökonomisch eine Rolle spielen. Es gibt nicht wenige, die zu Recht argumentieren, in einem solchen Falle müssten wir gegenüber China genauso konsequent auftreten wie jetzt gegenüber Russland.
Könnten wir uns weitreichende Sanktionen leisten? Die Verflechtungen sind enger, als sie es mit Russland waren.
Bütikofer: Das ist ein Unterschied, richtig. Nach Russland gingen vor dem Krieg ungefähr ein Prozent unserer Exporte, nach China gehen annähernd zehn Prozent. Gegenüber einem Land im Konfliktfall selbstbewusst aufzutreten, das uns ökonomisch im Schwitzkasten hätte, wäre sehr schwer. Als Konsequenz müssen wir bestehende Abhängigkeiten, die zur Waffe gegen uns geschmiedet werden können, schnell abbauen. So alternativlos, wie manche tun, ist das Engagement mit China nicht. Erstens setzt China selbst nicht auf langfristige Partnerschaft. Zweitens gibt es erhebliche Zweifel, wie erfolgreich Chinas Ökonomie sein wird. Drittens werden bis 2040 Indien, Indonesien und Japan zusammen wesentlich größere Märkte darstellen. Insofern sollten wir uns nicht in Gespenster-Debatten flüchten.
Hat Europa das verstanden und vor allem: Handelt es auch danach?
Bütikofer: Natürlich darf vor allem die Politik sich nicht wegducken. Es ist wichtig, dass wir eine Debatte führen, welche Lehren wir aus der russischen Erfahrung im Verhältnis zu China ziehen müssen. Da gab es in der Vergangenheit unterschiedliche ideologische Positionen: Das eine Extrem war der unselige Glaube, dass auf Ewigkeit Friede, Freude, Eierkuchen herrsche. Das andere war der unbedachte, rabiate Vorschlag, einfach die Beziehungen zu kappen. Die nötige ernsthafte Diskussion kann keine sein, die sich nur in Regierungsstuben abspielt und dann dekretiert wird. An ihr müssen sich Wirtschaft und Gesellschaft beteiligen. Es ist zum Beispiel relevant, ob sich unsere Forschungsinstitutionen bewusst sind, dass von China aus versucht wird, Technologie-Klau zu betreiben, um damit die chinesische Volksbefreiungsarmee aufrüsten zu können.
In der EU verlangen derzeit viele von Deutschland, noch stärker eine Führungsrolle zu übernehmen. Wie erleben Sie die Diskussion?
Bütikofer: Es ist zwiespältig. Auf der einen Seite kann Deutschland als das mächtigste Land in der EU nicht sagen, andere sollten sich um die Probleme der Welt kümmern, während wir Geschäfte machen. Andererseits will aber niemand, dass die Deutschen einfach bestimmen, wo es lang geht, während der Rest spuren muss. Das war ja die Kritik an der Nord-Stream-Politik der Vorgängerregierungen. Ich glaube, der Appell an eine deutsche Führungsverantwortung zielt im Kern darauf ab, dass Deutschland in den europäischen Diskussionen um die Entwicklung einer gemeinsamen Perspektive verantwortlich mitmacht und sich nicht da, wo es schwierig wird, heraushält und im Einzelfall einen eigenen Weg beschreitet. Schaffen wir es klarzumachen, dass wir die Maßnahmen, die wir ergreifen, in eine solidarische Perspektive einpassen? Oder sind wir der Sonderfall in Europa?
Was fordern Sie von der Bundesregierung auf europäischer Ebene?
Bütikofer: Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hat mit seiner Rede zur vergangenen Russlandpolitik gerade etwas gezeigt, was Europa gerne sieht: Die Deutschen sind fähig zur selbstkritischen Reflexion. Sie wollen nicht nur immer den Mantel der christlichen Nächstenliebe über die eigenen Fehler ausgebreitet sehen, während sie jedem anderen mit dem Zeigefinger drohen, wenn etwas nicht so läuft, wie wir es für richtig halten.
Sondern?
Bütikofer: Unsere Nachbarn wünschen sich ein Deutschland, das respektvoll mit ihnen umgeht und willens ist, entsprechend seinen Möglichkeiten einen Beitrag zu leisten. Wenn man sich zum Beispiel die absoluten Größen bei den Waffenlieferungen an die Ukraine anschaut oder sieht, dass Estland ein Vielfaches pro Kopf von dem liefert, was wir liefern, dann ist nicht zu bestreiten, dass wir mehr tun müssen.
Zur Person: Der 69-jährige Mannheimer Reinhard Bütikofer war von 2002 bis 2008 Bundesvorsitzender der Grünen. Seit 2009 sitzt er im EU-Parlament und gilt als langjähriger Chinaexperte.