Sie haben in Ihrer Karriere bei der Bundeswehr viele Erfahrungen gesammelt. Unter anderem waren Sie stellvertretender Kommandeur des deutschen Kontingentes in Afghanistan. Wie erleben Sie die Situation in der Ukraine, mit den schrecklichen Bildern von Gräueltaten?
Jürgen Knappe: Das sind Bilder, die ich mir in Europa nicht hatte vorstellen können. Auch wenn es für mich nach dem Einmarsch der Russen 2008 in Georgien und der Annexion der Krim 2014 nicht völlig überraschend war, dass Russland in der Ukraine militärisch eingreift. Dass Moskau aber so massiv einmarschiert, hatte ich nicht erwartet.
Hat die Nato die Gefahr, die von Wladimir Putin und Russland ausgeht, unterschätzt?
Knappe: Ich glaube nicht, dass man das mit Blick auf die 30 Mitglieder der Nato so pauschal sagen kann. Einige Länder wie Polen, die baltischen Staaten oder die USA haben immer wieder vor Putin und Russland gewarnt. Deutschland, Spanien, Italien oder Frankreich haben die Bedrohung als weniger ernst wahrgenommen.
Viele Nato-Staaten liefern jetzt Waffen an die Ukraine. Nach einigem Zögern auch Deutschland. Dennoch wird Berlin vorgeworfen, zu wenig zu tun, ja zu bremsen. Zu Recht?
Knappe: Am Anfang war Deutschland sicher nicht ganz vorne dran . Ob Berlin jetzt bremst, kann ich nicht beurteilen. Aber der Sinneswandel in der Außenpolitik ist offensichtlich. Außenministerin Baerbock hat harte Nato-Positionen zu ihren eigenen gemacht. Und ich finde, sie agiert bemerkenswert souverän.
Halten Sie es für angemessen, dass sich die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht weigert, Details über die Waffenlieferungen an Kiew preiszugeben?
Knappe: Wichtig ist ja erst einmal, ob die Ukraine genau weiß, was sie an Waffen bekommt. Natürlich kann man sagen, dass detaillierte Informationen über Waffenlieferungen den Transfer in die Ukraine gefährden. Gleichzeitig wäre es ein klares Signal an Moskau, wenn man öffentlich macht, was geliefert wird. Ich gehe davon aus, dass die Russen recht genau wissen, was in die Ukraine kommt. Die deutsche Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, dass zumindest später genau gesagt wird, was für Waffen Kiew erhalten hat.
Die Nato, für die der französische Präsident Emmanuel Macron vor nicht allzu langer Zeit den „Hirntod“ diagnostiziert hat, erweist sich in der Krise als quicklebendig.
Knappe: Ich kann mir vorstellen, dass Präsident Macron das etwas überpointiert gesagt hat, um deutlich zu machen, wie schwer die Abstimmungsprozesse in der Nato. Entscheidend ist, dass wir jetzt davon profitieren, dass bei den Nato-Gipfeltreffen in Wales 2014 und Warschau 2016 die Kommandostruktur neu aufgestellt worden sind.
Das müssen Sie erklären.
Knappe: Es war ein Glücksfall, dass damals ein Wandel eingeleitet wurde, der es uns jetzt erlaubt, zügig auf die Krise zu reagieren. Mit dem Umbau der Nato-Kommandostruktur wurden auch schnelle Eingreiftruppen und Soforteingreiftruppen entwickelt. Zudem konnten Kräfte in den baltischen Staaten und Polen, die sich von Moskau bedroht fühlen, langfristig eingesetzt werden. In der aktuellen Krise waren Nato-Mitglieder in der Lage, die Kräfte zu verstärken und vergleichbare Kräfte schnell nach Ungarn, Bulgarien, in die Slowakei und Rumänien zu schicken. Das sagt den Ländern, die sich bedroht fühlen „Die Nato ist da“ – so wird Bündnissolidarität spürbar. Und es signalisiert Russland deutlich, dass die Allianz an ihrer Ostflanke schnell und massiv reagieren kann.
Die Drohung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, der Nato den Rücken zuzukehren, hat gezeigt wie verletzlich und von den USA abhängig das Bündnis ist.
Knappe: Ich habe seit 2018 das neue Nato-Kommando, das Joint Support and Enabling Command in Ulm, aufgebaut. Dort werden die Abläufe koordiniert, die notwendig sind, um die Verlegung von Material und Personal für Nato-Einsätze vorzubereiten und durchzuführen, zudem ist es für die Beratung in logistischen Themen des Bündnisses zuständig. Es ist ein sichtbarer deutscher Beitrag, um die Allianz zu stärken. Dabei spürte ich immer, dass die USA großen Respekt und Anerkennung für die Bundeswehr hatten. Gleichzeitig aber gab es die klare Erwartung, dass die Deutschen und die Europäer einen stärkeren Beitrag in der Nato leisten – also Willens sind, sich nicht nur auf die Verteidigungsbereitschaft der Vereinigten Staaten zu verlassen.
Wie soll die europäische Verteidigungspolitik auf die erschütterte Sicherheitsordnung reagieren?
Knappe: Der wichtigste Punkt ist, dass die Politik Lösungen finden muss. Dass das mit Putin möglich ist, erscheint nur schwer vorstellbar. Aber langfristig wird im Interesse Europas auch eine Stabilisierung des Verhältnisses zu Russland nötig sein.
Sollte die EU, wie Frankreich schon lange fordert, parallel zur Nato in Zukunft eigene militärische Strukturen ausbauen?
Knappe: Nein, ich denke, dass Ziel sollte es sein, die europäische Komponente in der Nato zu stärken und mit militärischen Fähigkeiten sichtbar zum Ausdruck zu bringen. Ich glaube nicht, dass wir die personellen, materiellen oder gar finanziellen Ressourcen werden aufbringen können, um zusätzlich reine EU-Streitkräfte aufzubauen, ich sehe auch nicht die Notwendigkeit dafür.
Wie soll sich die Bundeswehr künftig ausrichten?
Knappe: Im Grundsatz steht das alles im Weißbuch 2016 des Verteidigungsministeriums für die Bundeswehr. Die wichtigsten Aufgaben sind danach die Landes- und Bündnisverteidigung. Dazu gibt es ein gestaffeltes Fähigkeitsprofil, das es gilt, bis 2032 umzusetzen. Dort steht zum Beispiel, dass die Bundeswehr über drei Divisionen und acht Bataillone – alle voll einsatzbereit – verfügen soll. Deutschland wird sich daran messen lassen müssen, dass das auch umgesetzt wird, trotz der hohen Kosten.
Zweifeln Sie daran?
Knappe: Denken Sie an das von Bundeskanzler Scholz angekündigte Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Schon jetzt ist eine Diskussion darüber entbrannt, was damit genau gemeint ist, ob tatsächlich nur die Streitkräfte davon profitieren sollen. Am Ende können die aktuellen Ziele für die Bundeswehr bezogen auf das Fähigkeitsprofil nur erreicht werden, wenn die notwendigen finanziellen Ressourcen auch verbindlich in die langfristige Planung eingestellt werden.
Jetzt wird in Finnland und Schweden über eine Nato-Mitgliedschaft debattiert. Sind Sie dafür, die Skandinavier aufzunehmen?
Knappe: Absolut. Wenn ich ein Finne oder Schwede wäre, würde ich mich nicht wohlfühlen dabei, nicht in der Nato zu sein.
Hätte man die Ukraine schon vor Jahren in die Nato aufnehmen sollen oder wäre dadurch vielleicht sogar schon früher ein militärischer Konflikt ausgebrochen?
Knappe: Das wird man nie erfahren. Für die Nato war es nicht einfach, ein Land aufzunehmen, das in einen schwelenden militärischen Konflikt mit Russland um den Donbass verwickelt war und von dem ein Teil, also die Krim, von Russland besetzt ist. Das ist mit Finnland und Schweden, die ja seit vielen Jahren militärisch mit der Nato kooperieren, nicht zu vergleichen.
Zur Person: Jürgen Knappe, 65, war von 2018 bis zu seinem Ruhestand im März 2022 Befehlshaber des Multinationalen Kommandos Operative Führung in Ulm. Der Generalleutnant baute dort das Nato-Joint Support and Enabling Command auf – ein Unterstützungskommando der Nato.