Herr Gauck, viele Menschen im Land haben ihr Gefühl der Sicherheit verloren. Dabei haben wir in der Vergangenheit immer wieder Krisen durchstanden. Trauen wir uns heute zu wenig zu?
Joachim Gauck: Es hat mich schon als Bundespräsident immer gestört, dass ein so stabiles Land mit einer so sicheren Demokratie, einer fantastischen Rechtsordnung, ein Land mit Wohlstand und friedlichen Nachbarn um sich herum, jammert. Dass ein so gesegnetes Deutschland nicht mehr Freude und Dankbarkeit auslöst, sondern ein gemäßigtes Nörgeln zur Nationalkultur geworden ist, das ärgert mich. Deutschland war eine Nation von Mördern, aber wir sind aufgestanden. 1989 haben die Ostdeutschen uns dann gezeigt: Wir können auch Freiheit. Ich habe immer versucht, den Menschen zu vermitteln: Glaubt doch wenigstens an das, was ihr selbst geschaffen habt. Wir brauchen keinen Nationalismus, aber eine Gewissheit: Wir taugen etwas, wir vermögen etwas.
Als Bundespräsident war ihr mächtigstes Werkzeug das Wort. Sie haben es genutzt. Wird das heute in der Politik unterschätzt?
Gauck: Schauen wir doch einmal: Wie spricht uns die Politik an? Werden wir von den Akteuren als erwachsene Menschen wahrgenommen – oder doch eher als Heranwachsende, denen man nicht alles bis zum Schluss erklären muss? Wenn es um maßgebliche Weichenstellungen geht – Krieg oder Friede, Steuern hoch oder runter, das Klima wichtig nehmen und die Arbeitsplätze stärker sichern – hören wir immer wieder, wir sollen Vertrauen haben, die Entscheidungsträger würden schon richtig handeln. In solchen Momenten muss ich an Angela Merkel denken. Sie ist eine Frau, die große Verdienste hat. Im Jahr 2015 hat sie uns gesagt: Wir schaffen das. Ich fand das gut. Denn hätten wir lieber eine Regierungschefin gehabt, die sagt: Wir schaffen das nicht? Trotzdem hat ihre Ansage zu wenig Wirksamkeit entfaltet. Sie hat uns im Unklaren darüber gelassen, wie wir es schaffen. Dadurch entstand das Gefühl, dass die Politik die Situation nicht im Griff hatte.
Dadurch hat sie die AfD gestärkt…
Gauck: In ganz Europa wurden Parteien stark, die nationalistisch agieren. Immer wenn die Zuwanderungszahlen steigen, bekommen diese Leute Zulauf. Das sind in der Regel Parteien, die überhaupt keine Zukunftsangebote haben. Was sie haben, sind Tröstungsangebote. Rund ein Drittel der Bevölkerung in Europa stellt Sicherheit über Freiheit, ist geprägt von konservativen Bedürfnissen. Wenn aber die traditionellen konservativen Parteien der Mitte die Sorgen und Ängste dieser Menschen nicht mehr ausreichend wahrnehmen, wandern sie ab. In Österreich und der Schweiz geschah das früher als bei uns, selbst in Skandinavien und den Niederlanden. Das sind alles geordnete und wohlhabende Länder, Vorzeige-Staaten.
Sollte man die AfD verbieten?
Gauck: Mein Gefühl sagt: Wir brauchen diese Partei nicht, Deutschland wäre schöner ohne sie. Aber es geht nicht um mein Gefühl. Die AfD ist in freien Wahlen gewählt worden, die Gesellschaft hat ihr eine politische Würde zugesprochen. Ich halte unsere Demokratie für gefestigt genug, mit einer Partei, die nationalpopulistisch bis nationalistisch agiert, so intensiv zu debattieren, dass sie im Meinungsstreit unterliegen wird. Nicht alles, was wir nicht mögen, können wir verbieten. Genauso unsinnig ist es zu sagen, wer die AfD wählt, sei automatisch ein Nazi. Ein Teil dieser Menschen will, dass alles wieder so ist wie früher – und am liebsten ohne Ausländer. Leider fragen diese Menschen nicht, wer dann die Erdbeeren und den Spargel erntet.
Was können die konservativen Parteien dagegen tun?
Gauck: Die Nationalpopulisten vermischen ihre Analyse – es gibt zu viel Zuwanderung – mit Ressentiments gegen die Menschen. Die konservativen Parteien aber müssen ihren Wählern ein wertkonservatives Angebot machen. Sie müssen klarmachen, dass sie Werte und Traditionen erhalten und den Wandel nur dann unterstützen, wenn er allen nützt. Es reicht nicht, immer zu wiederholen: Vielfalt ist Gewinn. Wir müssen den Zuwanderern zumuten, dass sie unsere Werte achten. Wir müssen auch über Bandenkriminalität sprechen, über importierten Antisemitismus. Denn wenn die Parteien der demokratischen Mitte das nicht ansprechen, dann übernehmen das die Populisten. Ich will, dass dieses Land ein offenes Land bleibt. Für mich ist es begeisternd zu sehen, welche Arbeitsbereitschaft zugewanderte Menschen mitbringen. Viele unserer türkischen Geschäftsleute und Ingenieure und Krankenschwestern arbeiten so wie Oma und Opa in der Zeit des Wirtschaftswunders.
Aber wie weit dürfen die Parteien der Mitte dabei gehen?
Gauck: Wir haben Sorge, zu sprechen wie Rechtsradikale. Das verstehe ich. Mir geht es darum, in einer offenen Sprache – ohne Herabwürdigung von Menschen – Probleme anzusprechen. Wir sehen es aktuell in den Niederlanden, dass da ein Mann die Wahlen gewinnt, der keine Lösungen bietet. Politik muss also auch berücksichtigen, wann die Demokraten der Mitte die Mehrheit der Wähler und damit die Gestaltungsmacht verlieren. Die Frage kann also nicht nur ganz nüchtern sein, wie leistungsfähig unser Sozialsystem ist, sondern auch, wie belastbar die Gesellschaft ist. Deshalb gibt es ein klares Gebot: Wer die Mehrheit nicht verlieren will, muss manchmal auch Schritte gehen, die ihnen nicht sympathisch sind. Die Menschen müssen sehen, dass ein Wille zum Handeln da ist. Für manche Parteien ist das schwer, weil es den eigenen Vorstellungen widerspricht. Aber es gibt eine übergeordnete Regel: Machbar ist, wofür es politische Mehrheiten gibt.
Das ist nicht für alle einfach …
Gauck: Nein, einfache Lösungen sind nicht zu haben. Aber wer zeigt, dass er zum Handeln bereit ist, stärkt das Vertrauen – und das ist ein wichtiges Element. Es stimmt natürlich: Es gibt Situationen, da denkt man als normaler Bürger: Gott sei Dank sitze ich nicht im Parlament. Wir haben manchmal den Anspruch, dass Politik endlich „das Gute“ schafft. Politik kann aber manchmal nur das weniger Schlechte schaffen.
Für ihre Freiheit kämpfen seit dem 24. Februar 2022 die Ukrainer. Allerdings werden die Rufe, die einen schnellen Frieden fordern, wieder lauter. Wie sehen Sie das?
Gauck: Viele von denen, die sogenannte Friedensbriefe schreiben, raten den Ukrainern, besser stillzuhalten, damit nicht so viele Menschen sterben. Für die Ukraine aber ist der Kampf gegen Wladimir Putin ein Kampf um ihre eigene Freiheit. Sie werden nicht von Europäern oder Amerikanern in den Kampf getrieben, sondern sie wollen selbst nicht unter der Knute Moskaus leben, sie wollen keinem Herrn gehorchen, der die Autonomie des Landes ablehnt. Wir haben diesen Kampf verlernt, weil wir uns an freundliche Nachbarn gewöhnt haben. Viele sagen, dass Willy Brandt einst eine Entspannungspolitik betrieben hat. Richtig ist aber auch, dass die Zuwendungen für die Bundeswehr damals viel höher waren. Deutschland hat damals eine Politik der Stärke gegenüber der Sowjetunion betrieben. Ein Machthaber wie Putin, der bereit ist, Gewalt anzuwenden, sieht unsere guten Absichten nicht als Hinderung, die eigene Aggression voranzutreiben, sondern als Einladung. Wir müssen berechenbar stark sein. Berechenbar schwach zu sein, ist keine Friedenspolitik.
War die Abschaffung der Wehrpflicht unter diesen Gesichtspunkten ein Fehler?
Gauck: Aus heutiger Sicht würde ich sagen, ja. Aber damals waren wir froh, dass wir die Friedensdividende einstreichen konnten, nicht mehr so viel ins Militär investieren mussten. Wir fühlten uns nicht mehr bedroht. Putin hat uns in diesem Glauben gelassen.
Was ist passiert mit Putin? Wann hat er sein Verhalten geändert?
Gauck: Lenin hat den Kommunisten beigebracht: Hast du einmal die Macht, gib sie nie wieder her. Das hat Putin beherzigt. Umso mehr hat es ihm Angst gemacht, dass auf dem Maidan in Kiew Menschen, die in der Sowjetunion erzogen worden sind, einen Präsidenten stürzen konnten, der den Weg nach Europa blockiert hat. Die Ukrainer gingen auf die Straße, genau wie 1989 die Menschen in Dresden. Putin war damals Augenzeuge. Sein Trauma ist, dass irgendwann auch die Leute in Russland aufstehen und rufen: Wir sind das Volk. Nicht die Nato, sondern das ist es, was er fürchtet. Weil es für ihn der Anfang vom Ende sein könnte.
Was folgt für Sie daraus?
Gauck: Wir dürfen nicht, wenn jemand seine Panzer losschickt, so tun, als würde das Gespräch ihn beruhigen können. Wir müssen aufwachen und unsere ureigenen Interessen, nämlich die Sicherung unserer Freiheit, verteidigen. Wir werden die Ukraine nicht nur aus moralischen Gründen, sondern auch aus eigenem Interesse weiter unterstützen müssen. Damit fördern wir keinen Krieg, sondern verhindern die weitere Ausbreitung des Krieges.
Werden wir den Gesprächsfaden zu Russland irgendwann wiederfinden?
Gauck: Es ist unsicher. Im Moment ist Sicherheit in Europa leider nur gegen Russland möglich. Die Menschen in Russland haben sich an ihre politische Ohnmacht gewöhnt. Die Hoffnung ist, dass irgendwann von oben jemand kommt, der das System ändert – so wie es Michail Gorbatschow versucht hat. Er hat es damals gewagt, nicht nur auf Macht und Unterdrückung, sondern auf Überzeugung zu setzen. Leider hatte er dem eigenen Volk nicht genug anzubieten
Zur Person:
Joachim Gauck, 83, war von 2012 bis 2017 der erste parteilose Bundespräsident. Der Theologe war an der Revolution in der DDR beteiligt. Er gehörte der ersten frei gewählten Volkskammer an. Nach der Wiedervereinigung wurde er Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Sein jüngstes Buch heißt: „Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“.