Herr Merz, zu Ihrem kleinen Parteitag haben Sie den grünen Vordenker Ralf Fücks als Gast eingeladen. Ist die programmatische Not bei der CDU schon so groß?
Friedrich Merz (lacht): Wir laden Menschen ein, die wir interessant finden – insbesondere solche, mit denen wir uns in der Sache hart auseinandersetzen können
Trotzdem scheint die CDU vor einer Richtungsentscheidung zu stehen. Soll sie das Wertkonservative stärker betonen, wie Sie es tun, oder auf einem Kurs der liberalen Mitte bleiben, wie es Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst fordert?
Merz: Wir sind am besten beraten, wenn wir uns auf alle drei Wurzeln der CDU gleichermaßen berufen: auf das Wertkonservative genauso wie auf das Liberale und Soziale. Daraus ergeben sich Fragen, auf die wir im Lichte des Wandels, den wir erleben, neue Antworten geben müssen.
Was heißt es denn heute, konservativ zu sein? Konservativ wird ja gerne mit altmodisch gleichgesetzt, also irgendwie gestrig.
Merz: Mein Eindruck ist, dass die Bevölkerung in einer unsicheren Zeit nach Halt sucht, und das ist doch im besten Sinne des Wortes konservativ - zu erhalten, was dieses Land stark und erfolgreich gemacht hat. Dabei müssen wir trotzdem offen sein für Neues, für Veränderungen, für Fortschritt. Ich würde sagen, „konservativ“ ist ein Synonym für Sicherheit im Wandel.
Geht es auch konkreter? Wie sähe, zum Beispiel, eine konservative Klimapolitik aus?
Merz: Wir wollen die große Herausforderung des Klimawandels nicht mit Verboten, Regulierung und Bevormundung bewältigen. Wir setzen auf andere Instrumente, die unseren Vorstellungen von der sozialen Marktwirtschaft und unseren Vorstellungen von Freiheit in einem offenen, liberalen Staat entsprechen. Man kann Menschen nicht umerziehen. Vor allem der grüne Teil dieser Regierung aber glaubt, dass man die Bevölkerung zu ihrem Glück zwingen muss. Das können Sie nicht nur in der Wirtschafts- und Energiepolitik beobachten, sondern auch bei Auslandsreisen grüner Minister: Ein moralisierendes und bevormundendes Auftreten. Selbst bei Reisen nach Südamerika erklären sie ihren Gastgebern noch, was sie zu tun und zu lassen haben.
Die Regierung zu kritisieren ist das eine. Aber wie sähen Ihre Alternativen aus?
Merz: Wir werden zu recht gefragt, was würdet ihr denn anders machen? Ich weise dann immer darauf hin, dass es bereits ein Gebäudeenergiegesetz und ein Klimaschutzgesetz gibt, das sind ja alles keine Erfindungen dieser Koalition. Beide Gesetze wurden von der Vorgängerregierung aus Union und SPD beschlossen. Aber die Änderungen, die die Ampelparteien daran vornehmen, sind doch sehr willkürlich. Nehmen Sie das Gebäudeenergiegesetz und die Wärmepumpen: Die Koalition will hier mit der Brechstange etwas erzwingen, was die Mehrheit der Bevölkerung so nicht will und sozial häufig genug auch gar nicht kann. Wir haben den Vorschlag gemacht, zunächst einmal überall eine kommunale Wärmeplanung zu machen, die Fristen zur Umstellung der Heizungen im bestehenden Gebäudeenergiegesetz zu erhalten und mit der Bepreisung von Kohlendioxid ein zusätzliches marktwirtschaftliches Instrument einzuführen, flankiert von einem sozialen Ausgleich zugunsten der finanziell schwachen Haushalte. So aber hat diese Koalition die Mehrheit der Bevölkerung gegen sich aufgebracht. Und am Ende schadet das Vorhaben dem Klimaschutz mehr, als es ihm nutzt.
Die FDP wollte in der Ampel die Partei der ökonomischen Vernunft sein. Täuscht der Eindruck - oder werden die Liberalen Ihnen immer fremder? Sie waren lange der natürliche Partner der Union.
Merz: Zunächst einmal würde es heute schon rechnerisch nicht reichen, auch in den meisten Bundesländern nicht. Leider wird die letzte schwarz-gelbe Koalition im Bund von der FDP auch nicht mehr als Erfolg verbucht, stattdessen beklagen die Liberalen jetzt beständig, wie schrecklich diese 16 Jahre mit der Union in der Bundesregierung für Deutschland gewesen sein sollen. Dabei waren sie vier Jahre mit dabei. Kein Wunder, dass viele Wählerinnen und Wähler an der FDP verzweifeln.
Kann man als Wähler nicht auch an der CDU verzweifeln? Sie haben noch nicht einmal Ihr neues Parteiprogramm fertig, diskutieren aber schon über den nächsten Kanzlerkandidaten.
Merz: Sie hätten recht, wenn diese Diskussion tatsächlich bei uns so geführt würde.
Einspruch. Mit seinem Plädoyer, weiterzumachen wie unter Angela Merkel, hat Herr Wüst Ihnen den Fehdehandschuh hingeworfen. Will er Kanzlerkandidat werden?
Merz: Ich verstehe, dass Journalisten es spannender finden, über Personalien zu spekulieren als über Textpassagen im Grundsatzprogramm zu schreiben. Aber ich kann nicht erkennen, dass das irgendwo in unseren Führungsgremien eine Rolle spielen würde, weder bei uns noch bei der CSU. Wir fokussieren uns auf Inhalte, nicht auf Personaldebatten.
Sie sind einmal angetreten, der AfD die Hälfte ihrer Wähler abzujagen. Jetzt liegt sie bei knapp 20 Prozent. Was läuft da schief?
Merz: Der damalige Kontext war anders. Als ich das gesagt habe, waren wir noch in der Regierung und hatten es in der Hand, Entscheidungen zu treffen, die die AfD klein gehalten hätte. Das gilt vor allem für die Flüchtlingspolitik. Alle Wahlforscher sagen uns, dass die AfD fast nur dieses eine Thema hat. Eine andere Flüchtlingspolitik würde dazu führen, dass auch die Umfragewerte der AfD wieder sinken. Aber wenn die Bundesregierung das Gegenteil tut, dann kann die Opposition sie nicht halbieren.
Was würde ein Kanzler Merz in der Migrationspolitik denn anders machen?
Merz: Wir hätten unter keinen Umständen zugelassen, dass im Aufenthaltsgesetz, das die wesentlichen Statusfragen der Ausländer in Deutschland regelt, das gesetzliche Ziel der Begrenzung des Zuzugs nach Deutschland aufgegeben worden wäre. Aber genau das ist in der letzten Woche geschehen. Wir müssen die Zuwanderung steuern und eben begrenzen, das geht doch gar nicht anders. Aber vor allem die Grünen sträuben sich schon lange dagegen, und deshalb ist in der Gesetzgebung der Ampelregierung von einer Begrenzung des Zuzugs jetzt nicht mehr die Rede. Die notwendige gesteuerte Zuwanderung in den Arbeitsmarkt wird weiter überholt werden von einer ungesteuerten Einwanderung in unsere Sozialsysteme.
Andere Länder unterscheiden schärfer zwischen der Asylpolitik und der Einwanderung von Fachkräften. Warum gelingt das in Deutschland nicht?
Merz: Wir haben genau deshalb den sehr konkreten Vorschlag gemacht, Einwanderung in den Arbeitsmarkt und die Asylverfahren strikt voneinander zu trennen, auch administrativ. Die Einwanderung, die wir brauchen, soll nach unseren Vorstellungen über eine rein digitale Plattform weltweit organisiert werden für diejenigen, die wirklich nach Deutschland kommen wollen und eine entsprechende Qualifikation vorweisen können. Wir nennen das Bundesagentur für Einwanderung. Das Asylverfahren dagegen muss im Prinzip nur eine Frage klären: Hat jemand Anspruch auf unseren Schutz, etwa weil er in seinem Heimatland verfolgt wird?
Ist der europäische Asylkompromiss eine Hilfe auf dem Weg zu einer geordneteren Migration?
Merz: Wenn es denn so käme, wie es die Innenminister der EU beschlossen haben: ja. Aber wir sind weit davon entfernt, dass das geltendes Recht wird. Das wird frühestens 2024, möglicherweise sogar erst 2025 der Fall sein, und bis dahin werden insbesondere die Grünen in Deutschland und in Europa massiv Front gegen diesen Kompromiss machen.
Die Koalition will fehlende Fachkräfte verstärkt durch Asylbewerber ersetzen. Lässt sich die Lücke nicht auch so schließen?
Merz: Wir haben Freizügigkeit in der EU, theoretisch könnten heute Millionen Europäer im erwerbsfähigen Alter nach Deutschland kommen und morgen ohne jede Einschränkung anfangen zu arbeiten. Aber Deutschland ist eben nicht das Sehnsuchtsland für gut ausgebildete Menschen auf der Welt. Im Gegenteil, geschätzt 160.000 bis 180.000 gut ausgebildete Menschen verlassen Deutschland im Jahr, manche auf Zeit, viele auf Dauer. Und warum? Offensichtlich, weil die Arbeitsbedingungen in anderen Ländern attraktiver sind. Und da rede ich jetzt nicht über Kanada, Amerika oder Singapur, sondern über Großbritannien, Österreich oder die Schweiz, die deutsche Ärzte, deutsches Pflegepersonal oder deutsche Ingenieure anziehen.
Haben wir uns auf unserem Wohlstand ausgeruht? Wir sind langsam, wir sind träge, wir leisten uns eine irrsinnige Bürokratie.
Merz: Ein Vertreter der Bundesregierung würde Ihnen jetzt wortreich das Gegenteil erklären. Der damalige Bundespräsident Roman Herzog musste 1997 für seine Forderung, durch Deutschland müsse ein Ruck gehen, viel Kritik einstecken. Aber sein Befund war nicht falsch. In Gesellschaften, die lange im Frieden, in Freiheit und im Wohlstand leben, lässt irgendwann die Anstrengung nach, das kann man ja auch historisch belegen. In einer solchen Phase sind wir jetzt. Zwar war die Zahl der Erwerbstätigen noch nie so hoch, aber die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ist verglichen mit 1999 um 15 Prozent gesunken. Das liegt nicht allein an der gestiegenen Produktivität, wir arbeiten mit einer größeren Kopfzahl einfach insgesamt weniger. Gleichzeitig wird dieser Staat dank vieler Instrumente wie der Grundsicherung im Alter, dem Bürgergeld oder der geplanten Kindergrundsicherung zunehmend als ein Staat wahrgenommen, der für jedes Lebensrisiko einsteht. Wir diskutieren über die Vier-Tage-Woche, über eine neue Life-Balance und befeuern diesen Trend durch ein ständig ausgeweitetes Transferangebot.
Muss durch Deutschland ein neuer Ruck gehen, wie ihn Gerhard Schröder vor über 20 Jahren mit seinen Sozialreformen erzwang?
Merz: Das Ergebnis war der am längsten anhaltende Aufschwung, den wir nach dem Wirtschaftswunder der sechziger Jahre erlebt haben. Wir müssen nicht alles anders machen in Deutschland, aber vieles besser. Das werden Sie auch in unserem neuen Grundsatzprogramm so wiederfinden. Die Menschen sollen sehen, dass die CDU begriffen hat, worauf es ankommt: dass die Partei zuletzt vielleicht ein bisschen bequem geworden war und zu wenig inspirierend, dass sie jetzt aber viele gute Ideen hat und man ihr das Land wieder anvertrauen kann. Deutschland droht erneut der kranke Mann Europas zu werden, aber das wird in anderen Ländern mit größerer Sorge verfolgt als hier bei uns. Wir möchten das nicht einfach hinnehmen.
Könnten Sie denn aus dem Stand übernehmen? Sie haben gesagt, Sie seien sich gar nicht sicher, ob die Ampel das Ende der Wahlperiode überhaupt erreicht.
Merz: Deswegen arbeiten wir auch so intensiv an unserem Programm. Nach der Sommerpause werden wir zu allen entscheidenden Fragen eine Antwort geben können. Dann sind wir bereit.
Ein Teil der Probleme, die Sie beschreiben, hat auch mit Defiziten in der Bildungspolitik zu tun. Woran hapert es hier?
Merz: Heute kommen mindestens zehn Prozent unserer Kinder als funktionale Analphabeten aus der Schule. Das heißt, sie sind nicht in der Lage, die Grundfertigkeiten Lesen, Rechnen und Schreiben anzuwenden, wenn sie in eine Berufsausbildung gehen - und das in einem der wohlhabendsten Länder der Welt! Wir brauchen vor allem eine bessere frühkindliche Bildung und eine individuellere Betreuung. Als mein Parteifreund Carsten Linnemann vor ein paar Jahren verbindliche Sprachtests für alle Kinder mit vier Jahren gefordert hat, war der Aufschrei noch groß. Jetzt haben wir es in der CDU beschlossen. Heute haben die meisten Menschen begriffen, dass wir bei Kindern viel früher ansetzen müssen, gerade bei Kindern aus Familien mit Problemen. Wenn die Kinder mit sechs unvorbereitet in die Schule kommen, ist es für viele schon zu spät.
Sie haben den Bundeskanzler in mehreren Debatten scharf für seine zögerliche Haltung in der Ukraine-Krise attackiert. Tut Deutschland inzwischen genug?
Merz: Zumindest tun wir mehr, und das ist auch ein Verdienst der Union. Wir haben dem Sondervermögen für die Bundeswehr zugestimmt und den Bundeskanzler auch bei allen weiteren Schritten unterstützt. Er hat sehr lange gezögert und für sein Zögern im Grunde genommen bis heute keine wirklich gute Begründung geliefert. Aber immerhin, wir sind weiter als vor einem Jahr.
Wie gut ist eigentlich Ihr persönliches Verhältnis? Ab und zu gehen Sie sogar miteinander Essen.
Merz: „Ab und zu“ ist ein bisschen übertrieben. Wir reden miteinander, wenn es erforderlich ist