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Interview: Forscherin: "Demografischer Wandel ist keine grau-düstere Bedrohung"

Interview

Forscherin: "Demografischer Wandel ist keine grau-düstere Bedrohung"

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    Kathatina Spieß ist seit 2021 Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, BiB und mahnt vor Schwarzseherei beim demografischen Wandel.
    Kathatina Spieß ist seit 2021 Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, BiB und mahnt vor Schwarzseherei beim demografischen Wandel. Foto: Peter-Paul Weiler

    Frau Professor Spieß, Sie leiten das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Sieht Deutschland in Zukunft alt aus?

    Katharina Spieß: Deutschland wird in Zukunft älter sein, es wird bunter sein, es wird mobiler sein. Wir werden mehr ältere Menschen haben. Aber ein klares Nein in der Hinsicht, dass Deutschland in Zukunft „alt aussieht“ und nicht mehr leistungsfähig sein wird. Der demografische Wandel ist kein Schicksal, es kommt immer darauf an, wie man ihn gestaltet.

    Dennoch wird über Demografie meist negativ gesprochen. Es fallen Schlagworte wie Überalterung, Jung gegen Alt, Rentenkrise, verödete Landstriche. Rollt da nicht ein Berg an Problemen auf Deutschland zu, oder sehen wir das zu negativ?

    Spieß: Der demografische Wandel bringt erhebliche Herausforderungen mit sich, aber es gibt vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. Derzeit bestimmt neben dem Fachkräftemangel der Übergang der Babyboomer in die Rente die Debatte. In diesem Kontext sind Debatten wichtig, ob bestimmte Gruppen, wenn sie leistungsfähig und gesund sind, länger arbeiten können und wie diese Leistungsfähigkeit erhalten bleiben kann. Hier sind Fragen der präventiven Gesundheitspolitik wichtig. Wir müssen aber auch darüber reden, was wir im familienpolitischen Bereich weiter tun können. Wichtig ist auch das Thema Bildung.

    Welchen Einfluss hat die Bildungspolitik auf die Bevölkerungsentwicklung?

    Spieß: Der demografische Wandel bedeutet, dass wir – sehr wahrscheinlich – zahlenmäßig weniger Menschen in Deutschland werden, und damit auch weniger Menschen im erwerbstätigen Alter. Aber deshalb muss nicht zwangsläufig die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft zurückgehen. Die Debatten um Digitalisierung und Künstliche Intelligenz zeigen zum Beispiel, dass bestimmte Tätigkeiten automatisiert werden können. Das ist eines von vielen Beispielen, wie wir dem künftigen Rückgang an erwerbstätigen Menschen begegnen können. Dies zeigt zugleich, wie wichtig es ist, dass wir in die Bildung und Ausbildung unserer heutigen und künftigen Erwerbsbevölkerung investieren müssen.

    Vor 60 Jahren kamen sechs Beitragszahler auf einen Rentner, heute sind es nur 2,1. Damals hätte sich niemand vorstellen können, dass unser System noch nicht zusammengebrochen ist. Aber man hat unterschätzt, dass die heutige Bevölkerung dank des Fortschritts produktiver ist. Wie lange kann dieses Prinzip „Produktivität schlägt Demografie“ funktionieren?

    Spieß: Auch die Demografie kann nicht in die Glaskugel schauen. Man nahm vor 30 Jahren an, dass unsere jetzige Bevölkerung heute schon viel kleiner wäre, als sie tatsächlich ist. Wenige haben damals geahnt, wie viele Menschen nach Deutschland einwandern. Bei den unter Zehnjährigen haben heute fast 40 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. Auch heute sind Wanderungsbewegungen längerfristig sehr schwer vorhersehbar. Die Bevölkerungsentwicklung ist aber auch von vielen anderen Faktoren abhängig. Eingangs haben wir über Familien- und Bildungspolitik gesprochen, es geht aber auch um Integrations-, Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik. Die Antwort auf den demografischen Wandel muss vielfältig sein.

    In der Familienpolitik hat sich viel getan: Elterngeld, Recht auf Kinderbetreuung, Kita-Ausbau für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wie hat sich das auf die Geburtenentwicklung ausgewirkt?

    Spieß: Wissenschaftliche Studien zeigen, dass zum Beispiel der Ausbau der Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige oder das Elterngeld positive Effekte auf die Geburtenrate hatten, auch wenn die Effekte nicht riesig waren. Wichtig ist aber auch, es geht nicht um eine staatliche „Geburtenpolitik“. In der Familienpolitik ist es vielmehr das Ziel, Eltern und potenzielle Eltern darin zu unterstützen, ihre vorhandenen Kinderwünsche realisieren zu können. Dafür ist der Ausbau der Kindertagesbetreuung bedeutsam, der nicht nur kurzfristig etwas verändert. Auch hier sehen wir eine Dynamik: Mit dem Ausbau nimmt der Bedarf zu. Denn mit dem Ausbau hat sich auch die Einstellung in der Gesellschaft gegenüber erwerbstätigen Müttern verändert. Mit dem Angebot ist also auch die Nachfrage gestiegen: Obwohl wir viel mehr Kitas haben, fehlen immer noch Plätze. Der deutliche Anstieg der Kindertagesbetreuung leistet zudem einen wichtigen Bildungsbeitrag zur Förderung von Kindern, insbesondere aus Familien, die zu Hause kein Deutsch sprechen oder zu Hause weniger gefördert werden. Gerade aus einer demografischen Perspektive müssen wir alle Potenziale unbedingt nutzen. Kein Kind darf zurückgelassen werden. 

    Das heißt, Investitionen in Kitas zahlen sich für die Rentenkasse aus?

    Spieß: Genau. Zum einen in dem Sinne, dass Eltern Familien- und Erwerbsarbeit vereinbaren können. Zum anderen dadurch, dass Investitionen in frühkindliche Bildung das Humankapital einer Gesellschaft erhöhen. Und es kommt hinzu: Je früher die Gesellschaft in die Bildung der Kinder investiert, desto höher ist die Rendite. Es gibt viele internationale Studien, die dies belegen. Kinder, die eine gute frühe Bildung erfahren haben, erzielen ein höheres Erwerbseinkommen und zahlen dadurch höhere Rentenbeiträge. Und die Steuereinnahmen steigen.

    Die typischen Demografie-Grafiken nennt man noch immer Alterspyramide, obwohl sie inzwischen ganz anders aussehen. Wie würden Sie die Entwicklung der Form Altersverteilung beschreiben?

    Spieß: Manche sprechen bei den Bevölkerungsdiagrammen inzwischen von einer Pilzform. Aber ich rede gerne von einem Diamanten, weil das verdeutlicht, dass ein richtiger Schliff den Es hat sich in den letzten Jahrzehnten da viel getan, zum. Beispiel bei der beruflichen Bildung, der Anteil von Menschen mit einem akademischen Abschluss ist gestiegen. Aber dennoch gibt es immer noch einen relativ hohen Anteil von Menschen ohne einen Berufsabschluss. Das ist in Zeiten des Fachkräftemangels ein Skandal.

    Ist der Fachkräftemangel ein Vorbote der Probleme des demografischen Wandels?

    Spieß: Demografischer Wandel findet immer statt, schon seit hunderten von Jahren. Wir sollten den Fachkräftemangel jetzt nicht im Sinne von „Untergangsszenarien“ diskutieren. Der Fachkräftemangel zeigt aber auch, wie schleichend sich der demografische Wandel vollzieht, das Problem bahnt sich langsam an und wird immer größer, ohne dass wir es am Anfang so richtig merken – ganz ähnlich wie beim Klimawandel. So wie Extremwetterereignisse uns heute immer wieder den Klimawandel vor Augen führen, spüren wir heute mit dem Fachkräftemangel den demografischen Wandel, obwohl beides sich schon sehr lange ankündigt. Dadurch, dass der Arbeitsmarkt sich heute immer mehr zum Arbeitnehmermarkt entwickelt, müssen Betriebe anders reagieren. Das bedeutet auch, wir müssen das komplette Potenzial der Arbeitskräfte besser nutzen. Wir brauchen das lebenslange Lernen. Wir brauchen die Weiterbildung. Wir brauchen die Frauen in der sogenannten Stillen Reserve am Arbeitsmarkt. 

    Gerade bei Frauen fällt der hohe Teilzeitanteil ab der mittleren Generation auf.

    Spieß: Der hohe Anteil an Teilzeitarbeitskräften ist auch ein Ausdruck dessen, dass Menschen, insbesondere Frauen, Sorgearbeit leisten. Viele Frauen kümmern sich nicht nur um die Kinder, sondern sie sind es, die auch mehrheitlich die Pflege älterer Menschen übernehmen. Wenn vor dem Hintergrund des demografischen Mangels diskutiert wird, dass nun mehr Frauen nicht nur Teilzeit arbeiten sollten, dann brauchen wir auch Personen, die an deren Stelle die

    Derzeit wird über eine Viertagewoche debattiert. Wäre weniger Arbeitszeit mit dem Ziel nach mehr Produktivität zur künftigen Rentenfinanzierung vereinbar?

    Spieß: Das ist in der Tat eine spannende Frage. Vermehrt wollen auch Väter die Viertagewoche, um Erziehungsarbeit zu übernehmen. Hier geht es also auch um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, von Erwerbsarbeit und Fürsorge. Es geht aber vielfach um die gewünschte „Work-Life-Balance“. Wenn wir also um längere Arbeitszeiten für bisher Teilzeiterwerbstätige diskutieren, müssen wir auch dieses bedenken. Wir müssen eine gesellschaftliche Debatte darüber führen: Wie wollen wir leben? Welche neuen Arbeitszeitmodelle wollen wir? Wie beeinflussen sie die Produktivität? Sind Erwerbstätige generell produktiver, wenn sie eine Viertagewoche haben? Wer übernimmt Sorgearbeit? Wie sichern wir die Produktivität der Volkswirtschaft? 

    Wir blicken immer aus der Perspektive der Gegenwart in die Zukunft. Unterschätzen wir dabei nicht nur unvorhersehbare Entwicklungen, sondern grundsätzlich die Leistungs- und Anpassungsfähigkeit der kommenden Generationen?

    Spieß: Wir wissen, die junge Generation kann sehr viel leisten. Aber wir wissen auch, dass wir unsere jetzige junge Generation während der Corona-Pandemie mit Kita- und Schulschließungen sehr stark belastet haben – vieles müssen wir jetzt wieder „reparieren“. Wir müssen deshalb verantwortungsvoll mit der jungen Generation umgehen, bei all den Herausforderungen, die sie vor sich hat. Der Bevölkerungswandel bietet für die junge Generation auch Chancen: Die Jungen sind noch wichtiger für uns geworden, denn wenn der Sockel der Bevölkerungspyramide wackelt, dann droht die ganze Pyramide zu wackeln. Wir sollten nicht nur von einer Überalterung, sondern von einer „Unterjüngung“ der Bevölkerung sprechen, denn das legt den Fokus auch auf die Jungen. Der demografische Wandel ist keine grau-düstere Bedrohung, sondern eine Herausforderung für alle Generationen, die uns zu vielfältiger Kreativität im Umgang damit anspornen kann. 

    Zur Person: Die Professorin für Bildungs- und Familienökonomie Kathatina Spieß ist seit 2021 Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, BiB.

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