Herr Prof. Lindner, das Familienministerium fördert eine Stiftung, bei der jedermann frauenfeindliche Äußerungen oder Vorfälle melden kann. Ist deren Verfolgung nicht Sache von Polizei und Justiz?
Lindner: Ja, sofern es sich um strafrechtlich relevante Fälle handelt, also um Beleidigungen, Verleumdungen oder gar tätliche Angriffe. Aber es gibt ja noch ein breites Spektrum an Äußerungen unterhalb dieser Schwelle, etwa wenn jemand das Gendern ganz grundsätzlich ablehnt. Das ist nicht strafbar.
Die Amadeu-Antonio-Stiftung sammelt vor allem solche Fälle. Darf sie das überhaupt?
Lindner: Äußerungen wie die über das Gendern sind ganz klar von der Meinungsfreiheit gedeckt. Eine privatrechtliche Stelle wie diese Stiftung kann solche Meinungen zwar sammeln. Das Entscheidende aber ist die Frage der Veröffentlichung. Hier ziehen das Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung und der Datenschutz deutliche Grenzen. Es kann nicht jeder Private über einen anderen Menschen ohne Weiteres personenbezogene Informationen und Daten ins Netz stellen.
Und wenn die Stiftung die Äußerungen anonymisiert?
Lindner: Dann wäre es kein Eingriff mehr in das Selbstbestimmungsrecht, vorausgesetzt eine Rekonstruktion der Person ist tatsächlich ausgeschlossen. Ohne Personalisierung aber kann sich die Stiftung ihre Arbeit wohl auch sparen. Dann könnte sie z. B. ja nur ganz allgemein sagen: Auf einer Veranstaltung wurde das und das behauptet. Und nicht: Herr xy hat das und das behauptet.
Im Kampf gegen Hass und Hetze im Netz wirkt der Rechtsstaat häufig überfordert. Lagert er Verantwortung deshalb aus? Die Antonio-Stiftung assistiert dem Bund ja auch bei der Kontrolle von Facebook.
Lindner: Wenn der Staat sich der Hilfe Dritter bedient, in diesem Fall einer Stiftung, und dieser Dritte dann Hoheitsaufgaben übernimmt und Eingriffsbefugnisse erhält, etwa bei der Strafverfolgung – dann braucht es dafür eine klare gesetzliche Grundlage. Was die Meldestelle für Antifeminismus betrifft, ist mir keine solche Grundlage bekannt. Eine Stiftung mit grundrechtsrelevantem Tätigkeitsbereich einfach nur mit Mitteln aus dem Haushalt ohne gesetzliche Grundlage zu fördern, halte ich für problematisch. In seinem Urteil zur Finanzierung der Parteistiftungen hat das Verfassungsgericht eine solche Praxis gerade erst verworfen.
Wenn jeder jeden anschwärzen kann: Öffnet das nicht der Denunziation Tür und Tor? Letztlich tritt dann ja eine Art Generalverdacht an die Stelle der Unschuldsvermutung.
Lindner: Sofern die Äußerungen nicht anonymisiert sind: Ja. Einmal angenommen, in meinen Vorlesungen oder bei meinen Vorträgen lauscht jemand gezielt mit und meldet dann in verzerrender und aus dem Kontext gerissener Weise eine bestimmte Äußerung irgendwohin, dann wäre das ein klarer Fall von Denunziation, ein Rückfall in vorrechtsstaatliche Zeiten. Und wenn der Staat so etwas auch noch gezielt fördert, greift er am Ende selbst in die Grundrechte der Angeschwärzten ein. Es macht keinen Unterschied, ob der Staat selbst eine Meldestelle für unbotmäßige Äußerungen einrichtet oder ob er eine Organisation bezuschusst, die sich das zu ihrer Aufgabe gemacht hat. Deshalb muss der Gesetzgeber sehr genau festlegen, unter welchen Voraussetzungen so etwas überhaupt zulässig ist und wie sich Betroffene im Falle eines Falles dagegen wehren können. Als Betroffener muss ich ja erfahren können, wer mich diffamiert hat. Und was die Unschuldsvermutung angeht: Ich sehe in diesen Meldeportalen eine Fülle von rechtsstaatlichen Fragen und Problemen, bis hin zur Gefahr der Vorwegverurteilung.
Was folgert daraus denn für die Politik?
Lindner: Wenn man so etwas überhaupt zulassen wollte – was ich persönlich für einen gefährlichen Irrweg hielte –, dann ginge das nur auf einer soliden gesetzlichen Basis. Dazu müsste der Bundestag zunächst einmal darüber diskutieren, ob so etwas überhaupt gemacht werden darf – und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen und rechtsstaatlichen Vorkehrungen. Das Familienministerium kann nicht einfach hergehen und irgendeine Stiftung, die sich dem Kampf gegen den Antifeminismus verschrieben hat und sich dabei der Denunziation bedient, mit erheblichen Beträgen fördern. Das gilt im Übrigen, soweit sie mit staatlichen Mitteln betrieben werden, auch für ähnliche Portale in den Bundesländern. Und selbst wenn eine Organisation ohne jede staatliche Förderung es sich zum Ziel gesetzt hat, frauenfeindliche oder rassistische Äußerungen zu sammeln und unter Angabe persönlicher Daten zu veröffentlichen, gelten auch für sie natürlich noch die Bestimmungen des Datenschutzrechts.
Um Beschäftigte, die Missstände in Behörden oder Unternehmen aufdecken, vor Repressalien zu schützen, hat der Bundestag ein Whistleblower-Gesetz beschlossen. Ist das, aus rechtsstaatlicher Sicht, noch akzeptabel?
Lindner: Die Whistleblower-Regelungen sehen immerhin gewisse Sicherungen vor. Mit den Meldestellen aber haben wir einen rechtlich nicht regulierten Bereich für Denunziation, Anschwärzung und Diffamierung, der in einem Rechtsstaat nichts verloren hat. Der Rechtsstaat lebt von Transparenz, von Offenheit und auch von rechtsstaatlicher Kontrolle. Das Wesen der Denunziation verträgt sich damit nicht.