Herr Thomae, vor einem Jahr zum Dreikönigstreffen 2021 stand die FDP noch in der Opposition. Heute ist sie Teil der Ampelkoalition und damit Regierungspartei. Was unterscheidet die Liberalen von heute von den Liberalen von damals?
Stephan Thomae: Inhaltlich gar nicht viel. Wir wurden hauptsächlich gewählt, weil wir unser Land modernisieren und voranbringen wollen, und weil wir in der Corona-Pandemie eine sachorientierte Oppositions-Politik gemacht haben. Unser Kurs orientiert sich stets am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ich wohne im Allgäu am Berg. Wenn die Straßen dort im Winter glatt sind, können sie im Auto das Lenkrad nicht hektisch überreißen, sondern müssen die Ruhe bewahren, den Fuß vom Gas nehmen und mit sacht dosierten Lenkbewegungen den Wagen in der Spur halten. Das ist auch unser Verständnis überlegter Corona-Politik.
Der Hauptunterschied zwischen Opposition und Regierung ist, dass die FDP als Regierungspartei Kompromisse eingehen muss, die für sie keine Leckerbissen sind. Stichwort 60 Milliarden neue Schulden und allgemeine Impfpflicht. Beschädigt die FDP hier schon am Beginn der Amtszeit ihren freiheitlichen Kern?
Thomae: Nein, das tut sie nicht. Die 60 Milliarden dienen ja nicht dazu, kurzfristig ein Haushaltsloch zu stopfen. Mit dem Geld wollen wir Staat und Wirtschaft digital modernisieren und klimafreundlich umgestalten. Das sind zwei große Regierungsziele der Koalition. Und bei der Impfpflicht haben wir uns entschieden, dass es keinen Fraktionszwang geben soll. Die Corona-Lage ist dynamisch und ändert sich laufend. Ich persönlich mache für mich hinter die allgemeine Impfpflicht noch ein großes Fragezeichen. Aber ich spreche niemandem ab, liberal zu sein, wenn er für die Impfpflicht stimmt.
Ihr Partei-Vize Wolfgang Kubicki lehnt eine allgemeine Impfpflicht ab, Ihr Vorsitzender Christian Lindner kann sie sich unter bestimmten Bedingungen vorstellen. Eine Mittelposition wäre, dass die verpflichtende Spritze für alle ab 60 Jahren eingeführt wird, weil das Virus Ältere besonders gefährdet. Ist das ein gangbarer Ausweg für die FDP?
Thomae: Eine Impfpflicht ist ein tiefer Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Dass Menschen Zweifel an den neuen Impfstoffen haben, muss man ernst nehmen. Dann ist die Frage zu klären, wie man eine Impfpflicht konkret umsetzt? Baut man ein nationales Impfregister auf und verhängt Bußgelder? Wer kontrolliert das am Ende? Diese Fragen sind noch offen, genau wie die Altersgrenzen für die Impfpflicht. Die Abgeordneten werden das ausgiebig diskutieren und am Ende kann jeder nach seinem Gewissen entscheiden.
Aus der baden-württembergischen FDP kommt der Vorschlag, statt eine Impfpflicht zu verhängen, lieber eine Impfprämie von 500 Euro zu zahlen. Das soll den Anreiz erhöhen, sich den schützenden Pieks geben zu lassen. Was halten Sie davon?
Thomae: Eine Impfprämie wäre nicht mein erster Einfall. Wir haben bereits mit der 2G-Regel einen starken Anreiz, sich gegen Corona impfen zu lassen.
Ein anderes Thema, dass neben der Corona-Politik für viel Wirbel gesorgt hat, ist die vom Ampel-Bündnis geplante Legalisierung von Cannabis. Wann geht die Koalition das an?
Thomae: Wir sollten uns damit Zeit lassen und vergleichen, was andere Länder dabei gut gemacht oder schlecht gemacht haben. Wir sollten nicht die Fehler der anderen wiederholen. Es sollte zum Beispiel nicht so laufen wie in den Niederlanden, wo man zwar in Coffee Shops legal Cannabis für sich erwerben kann, aber die Coffee Shops von Drogenbanden beliefert werden. Wir sollten die Freigabe keinesfalls über‘s Knie brechen.
Zur Person: Stephan Thomae, 53, geboren in Kempten, wurde im September 2021 zum Parlamentarischen Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion gewählt.