Herr Professor Karagiannidis, Sie sind im Expertenrat der Bundesregierung und haben mit der Intensivmedizinervereinigung Divi das aktuelle Corona-Intensivregister mitaufgebaut, das zu den wichtigsten Datengrundlagen der Pandemie gehört. Sie kritisieren, dass die Digitalisierung des Rests des Gesundheitssystems auf „gehobenem Brieftauben-Niveau verharrt“. Ist Deutschland hier wirklich so schlecht?
Christian Karagiannidis: Im Intensivregister ist es uns gelungen, die Kapazitäten der Krankenhäuser in der Intensivmedizin aktuell abzubilden. Was mich aber wirklich ärgert, ist, wir haben keinen blassen Schimmer, wie viele betreibbare Krankenhausbetten wir tagesaktuell in Deutschland haben, wie viele davon belegt sind und wie viele Pflegekräfte wirklich zur Verfügung stehen.
Hospitalisierungsinzidenz meilenweit von der Realität entfernt
Warum ist das so problematisch?
Karagiannidis: Momentan ist die sogenannte Hospitalisierungsinzidenz extrem wichtig. Es geht darum, wie viele Corona-Patientinnen und -patienten nicht nur auf der Intensivstation, sondern auch auf den Normalstationen liegen. Doch die offiziellen Daten sind aktuell meilenweit von der Realität entfernt. Die gemeldete Hospitalisierungsinzidenz liegt zum Beispiel für die Kliniken in Nordrhein-Westfalen bei 3,4 Covid-Behandlungen pro 100.000 Einwohner. In Wirklichkeit ist die Inzidenz längst über zehn gestiegen, was in manchen Bundesländern bereits eine Warnstufe für eine drohende Überlastung ist. Dieser gewaltige Unterschied ist eigentlich unfassbar, obwohl eine technische Lösung einfach umsetzbar wäre. Das ist peinlich und schadet vor allem den Patienten.
Viele Kliniken melden ihre Zahlen noch immer per Fax und E-Mail an die Landesgesundheitsämter oder das Robert Koch-Institut …
Karagiannidis: Es gibt verschiedene Meldewege, es wird zum Glück nicht alles per Fax gemeldet. Das Grundproblem ist die Frage, wer erhebt die Daten und wer gibt sie ein? Im Klinikalltag hat kein Arzt Zugang zu den Datenbanken des Robert Koch-Instituts und der Landesgesundheitsämter. Die Ärzte arbeiten aber jeden Tag mit ihrem eigenen Krankenhaus-Informationssystem. Deshalb sollten wir mit den vorhandenen Klinikprogrammen arbeiten oder den etablierten Übertragungswegen der Abrechnung oder mit den Krankenkassen.
Der Bund hat nun den Ball an die Landesgesundheitsminister gespielt, Vorschläge zur Digitalisierung zu machen. Ist das ein Fortschritt?
Karagiannidis: Aus rechtlicher Sicht ist Gesundheit Ländersache, aber ich kann mir keine Lösung ohne den Bund vorstellen. Es wäre nicht gut, wenn wir nun in den verschiedenen 16 Bundesländern 16 verschiedene Lösungsversuche bekommen. Am Ende braucht man einen gemeinsamen Vorschlag von Bund und Ländern. Der Bund muss bei solchen wichtigen Fragestellungen den Hut auf haben.
Wie könnte eine Lösung aussehen?
Karagiannidis: Wir müssen in Deutschland die Bereitstellung von Daten ganz neu denken. Und zwar von der Warte aus, was das Beste für die Patienten ist. Wenn es um die praktische Umsetzung geht, müsste es ein unabhängiges Bundesinstitut geben, das in staatlicher Hand die Daten sammelt und transparent zur Verfügung stellt – und zwar unabhängig von Interessen der Krankenhäuser, Krankenkassen, Politik und anderen Beteiligten im Gesundheitssystem. Denn wir müssen in Deutschland weg von Partikularinteressen, die in den letzten 20 Jahren aus unterschiedlichsten Gründen sehr viel blockiert haben.
Würde es nicht wieder Jahre dauern, eine neue staatliche Stelle aufzubauen?
Karagiannidis: Nein, so etwas gibt es im Grunde schon. Wir haben im Gesundheitswesen das InEK, das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus, das perfekt mit allen Kliniken in Deutschland verknüpft ist. Darüber läuft ein wesentlicher Teil der Abrechnungen der Krankenhäuser, und zwar automatisiert, verschlüsselt über gesicherte Server. Der zweite Weg läuft über die Krankenkassen ebenso gesichert und voll automatisiert. Das heißt, wir haben längst die Infrastruktur für einen automatisierten Datenfluss aus den Krankenhäusern, den man auch für andere gewünschte Informationen nutzen könnte. Das muss man nur wollen. Wenn man wirklich ein erweitertes Corona-Register für die Krankenhäuser haben möchte, könnte man das noch während der Omikronwelle innerhalb einiger Wochen umsetzen. Wir haben für den Aufbau des Divi-Intensivregisters sechs Wochen gebraucht, obwohl wir dafür eigene Eingabemasken entwickeln mussten, die es zum Beispiel bei den Abrechnungssystemen oder Übertragung an die Krankenkassen längst gibt.
Elektronische Patientenakte könnte Leben retten
Gesundheitsdaten sind bislang so gut wie gar nicht vernetzt. In der Pandemie sind wir auf Datenauswertungen aus gut digitalisierten Gesundheitssystemen wie England, Dänemark oder Israel angewiesen. Ist die schleppende Digitalisierung nicht unabhängig von Corona ein Desaster für Wissenschaft und Forschung in der Medizin?
Karagiannidis: Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen ist eine Katastrophe für die medizinische Forschung in Deutschland. Das kann man klar sagen. Wir sind im Bereich klinischer Daten die am weitesten abgehängte Industrienation in der wissenschaftlichen Forschung. Wir verschenken unser Potenzial. Wenn es um Daten aus dem Labor geht, sind wir international sehr gut, wie zum Beispiel die Forschung von Christian Drosten und anderen zeigt. Aber was die Forschung mit echten Daten aus der klinischen Praxis angeht, ist Deutschland international meilenweit im Rückstand. Dabei ist die elektronische Patientenakte vor 20 Jahren unter der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt beschlossen worden. Aber sie wurde bis heute einfach nicht umgesetzt.
Wer trägt dafür die Verantwortung?
Karagiannidis: Das liegt in diesem Fall nicht einmal an der Politik, auch wenn sie hier mehr Druck hätte machen müssen. Die Hauptverantwortung tragen die großen Spieler im Gesundheitssystem, die sich auf eine praktische Umsetzung nicht einigen konnten oder wollten. Das ist nicht nur peinlich, sondern widerspricht auch den grundlegenden Interessen der Patienten. Wenn wir zum Beispiel in der Notaufnahme einfach digital auf die Krankengeschichte des Patienten zurückgreifen könnten, anstatt mühsam alles bei ihm oder anderen abzufragen, wäre das im ureigenen Sinn der Patienten. Wenn der Patient dann noch bewusstlos ist, können solche Informationen Leben retten.
Datenschutz wird als Ausrede missbraucht
In Deutschland wird immer der Datenschutz angeführt. Aber auch in Dänemark gilt die Europäische Datenschutz-Grundverordnung. Übertreiben wir es damit?
Karagiannidis: Ich glaube, der Datenschutz wird immer dann als Monster aufgebaut, wenn man eine Ausrede sucht. Es gibt eine sehr ausführliche Stellungnahme des Sachverständigenrates im Gesundheitswesen, in der wirklich brillant geklärt ist, wie man mit den Daten der elektronischen Patientenakte mit allem erforderlichen Datenschutz umgehen kann. Die Karte Datenschutz wird aber gern gezückt, bevor man überhaupt einen Datenschützer nach den Möglichkeiten gefragt hat.
Wo liegen die Bedenken, geht es in Wahrheit um die Kosten?
Karagiannidis: Nein, die Kosten im Gesundheitswesen wären grundsätzlich niedriger, wenn man die elektronische Patientenakte umsetzen würde. Auch unterschiedliche Register für Krebsbehandlungen, Implantate oder Krankenhausbelegungen sind sehr viel teurer im Unterhalt, als man wenn einmal eingegebene Daten aus der elektrischen Patientenakte vernetzen könnte. Der Grund für die Nichtumsetzung liegt eher darin, dass sehr viele unterschiedliche Beteiligte eine echte Transparenz im Gesundheitswesen nicht möchten. Deshalb muss der Gesetzgeber hier noch einmal nachschärfen und auch harte Sanktionen bei einer weiteren Nichtumsetzung beschließen. Wir tun uns in Deutschland leider grundsätzlich oft schwer mit Transparenz. Aber das ändert sich mit den jüngeren Generationen. Die Patientinnen und Patienten und ihre Organisationen sollten hier viel mehr Druck machen.
Zur Person: Christian Karagiannidis ist Präsident der Gesellschaft für Internistische Intensiv- und Notfallmedizin. Der Medizinprofessor ist Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung und wissenschaftlicher Leiter des Divi-Intensivregisters.
Hören Sie sich dazu auch unseren Podcast an. In der aktuellen Folge spricht eine Betroffene über ihre Long-Covid-Erkrankung – und über den mühsamen Weg zurück in ein normales Leben.