Herr Krause, die Lage für die Ukraine wird immer schwieriger. Russland rückt bei Charkiw vor. Wie schätzen Sie die Situation ein?
JOACHIM KRAUSE: Die Lage der Ukraine ist derzeit sehr ernst, weil die Unterbrechung der Waffenlieferungen aus den USA zu einer Schwächung der ukrainischen Verbände geführt hat und weil dem Land die Soldaten ausgehen. Bei Charkiw haben die russischen Streitkräfte einen schmalen Landstreifen besetzt, es ist nicht klar, ob das die Vorbereitung für einen Großangriff auf Charkiw oder lediglich eine Operation ist, die verhindern soll, dass ukrainische Artillerie den russischen Ort Belgorod angreifen kann.
Das heißt, auch die späte Freigabe der US-Hilfen zeigt nun ihre Folgen?
KRAUSE: Ohne die Unterbrechung der Militärhilfe seit Januar wäre die Lage der Ukraine bedeutend besser.
Ist das so etwas wie der Anfang vom Ende für die Ukraine? Rückt der russische Sieg näher?
KRAUSE: Das kann man so nicht sagen. Selbst auf russischer Seite wird nicht von einem baldigen Sieg ausgegangen. Mit dem Eintreffen amerikanischer und europäischer Militärhilfe könnte die Lage wieder stabilisiert werden.
Welches Ziel verfolgt Putin damit, eine weitere Front im Norden zu eröffnen?
KRAUSE: Es ist nicht sicher, ob Putin im Norden eine neue Front im Sinne eines tiefen operativen Vorstoßes eröffnen will. Viel spricht dafür, dass es der russischen Seite darum geht, die überdehnten ukrainischen Kräfte zu überfordern und den Abzug von Kräften aus dem Donbass zu erreichen, weil dort der Hauptvektor der russischen Kriegsführung liegt. Aber man kann nicht ausschließen, dass Russland im Norden eine zweite Front eröffnet. Allerdings gibt es erhebliche Zweifel daran, dass die Russen die dazu benötigten Kräfte zur Verfügung haben.
Kann die Ukraine das personell auffangen? Immerhin mangelt es ihr ohnehin schon massiv an Soldaten.
KRAUSE: Das ist tatsächlich die große Schwäche der Ukraine, es ist allerdings für viele Beobachter schwer nachzuvollziehen, dass die Regierung der Ukraine nicht bestehende Mobilisierungsreserven ausschöpft und stattdessen Strafgefangene in die Schlacht schicken will.
Wie könnte der Westen der Ukraine aktuell helfen?
KRAUSE: Zum einen, indem wir Aufgaben übernehmen, mit denen wir die ukrainischen Streitkräfte entlasten. Hierzu könnte die Luftraumsicherung im westlichen Teil der Ukraine gehören. Das könnte vom Ausland aus geschehen, aber man sollte nicht ausschließen, dass auch westliche Luftabwehr in der Ukraine operiert. Aber auch Aufgaben im Bereich der Logistik könnten durch westliche Truppen in der Ukraine wahrgenommen werden. Zweitens kann es nicht angehen, dass den Ukrainern weiterhin nur solche Waffenlieferungen zugestanden werden, die es ihnen erlauben, den Status quo einigermaßen zu halten. Das ist eine Einladung an Russland, die Ukraine im Rahmen eines Abnutzungskrieges niederzuringen. Die westliche Staatengemeinschaft sollte eine Strategie der vorbedachten Eskalation einschlagen, bei der Russland signalisiert wird, dass wir entschlossen sind, alle militärischen Zielsetzungen zu durchkreuzen, die sich Russland in der Ukraine setzt. Vor allem muss verhindert werden, dass Russland weiterhin die ukrainische Energieversorgung zerstört und wahllos zivile Objekte angreift. Warum stellen die westlichen Staaten Russland nicht ein Ultimatum, in dem sie die sofortige Einstellung der strategischen Luftangriffe fordern, anderenfalls würden sie weitreichende Angriffssysteme liefern, die Angriffe in der Tiefe Russlands zulassen?
Wird die Ukraine stärker dazu übergehen, russisches Gebiet anzugreifen, um den Krieg ins Land zu tragen?
KRAUSE: Ohne westliche Hilfe bleibt das Niveau der ukrainischen Angriffe auf Ziele in Russland begrenzt und daher weitgehend wirkungslos.
Putin reist in dieser Woche nach China. Das Land unterstützt Russland vor allem durch wirtschaftliche Beziehungen. Was erwarten Sie von diesem Besuch?
KRAUSE: China hat Russland geholfen, die negativen Folgen der westlichen Sanktionen zu umgehen, indem es vor allem Maschinen und technologisch hochwertige Komponenten geliefert hat, die aufgrund der Sanktionen nicht nach Russland geliefert werden konnten. Inzwischen sieht sich Peking starkem Druck aus den westlichen Hauptstädten ausgesetzt und muss fürchten, selber zum Gegenstand wirtschaftlicher Gegenmaßnahmen zu werden. Von daher nimmt die Bereitschaft in China ab, den Russen in jeder Hinsicht zur Seite zu stehen. Ich gehe davon aus, dass der Besuch Putins dem Ziel dient, die Chinesen dazu zu bewegen, ihm weiterhin die Stange zu halten.
Im Juni steht die Friedenskonferenz in der Schweiz an. Kann das zumindest der Einstieg in einen Friedensprozess sein?
KRAUSE: Ohne russische Mitwirkung wird diese Konferenz keinen Friedensprozess eröffnen und Russland hat klargemacht, dass es nicht teilnehmen wird. Das Beste, was aus dieser Konferenz herauskommen kann, ist eine stärkere Bindungszusage der westlichen Staaten für die Verteidigung der Ukraine.
Eine Idee ist, dass die Ukraine die Gebiete im Osten aufgibt, der Krieg sozusagen eingefroren wird, und der Westen der Ukraine der Nato beitritt. Wie realistisch ist das?
KRAUSE: Es ist durchaus denkbar, dass der Krieg in der Ukraine so endet wie der in Korea im Jahr 1953, das heißt mit einem Waffenstillstand und keiner politischen Regelung. Ich möchte bezweifeln, dass das ein erstrebenswertes Ziel ist, aber es kann sein, dass es darauf hinausläuft. Es wäre zumindest besser als ein Waffenstillstand, bei dem der Osten unter russischer Kontrolle bleibt und die Rest-Ukraine zu einer verhängnisvollen Neutralität gezwungen wird.
Zur Person
Prof. Dr. Joachim Krause ist Direktor emeritus des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK).