Massaker und Gräueltaten sind Ihr Forschungsgebiet. Hilft Ihnen das, zu den Schreckensmeldungen, den Fotos und Videos aus den überfallenen Dörfern im Süden Israels inneren Abstand zu bewahren?
Danny Orbach: Um ehrlich zu sein, ich kann mich noch nicht dazu überwinden, die meisten dieser Clips anzuschauen, obwohl ich denke, ich sollte es tun, um zu verstehen, was dort passiert ist. Wir Historiker haben normalerweise eine Art inneren Schutzwall zwischen uns und dem historischen Geschehen, das wir untersuchen. Dazu trägt auch die Art des Mediums bei: Es gibt Studien, die belegen, dass das Schwarz-Weiß alter Filme und Fotos Distanz zwischen Geschehen und Betrachter schafft. Aber die aktuellen Aufnahmen aus dem Süden Israels haben diese Trennwand eingerissen und das ist extrem traumatisch.
In den Kibbuzim Be’eri und Kfar Azza wurden Dutzende Leichen gefunden, zum Teil furchtbar zugerichtet, darunter etliche Kinder. Sie beschreiben das Massaker als Proto-Genozid. Was meinen Sie damit?
Orbach: Bei der Analyse von Gräueltaten müssen wir uns die Intention dahinter ansehen. Viele sind die Folge unkontrollierter Gewalt, während die Täter mit etwas anderem beschäftigt sind. Man kann eine Militärbasis stürmen und dabei extrem unvorsichtig sein, was zivile Opfer angeht, und viele Menschen erschießen. Man kann die Kontrolle über seine Soldaten verlieren. All das sind „normale“ Gräueltaten in Kriegen. Was jedoch in Kfar Azza, Be’eri und anderen Orten geschehen ist, ist nicht eine Gräueltat dieser Art. Die Intention der Terroristen war sehr deutlich: einige Menschen entführen und alle anderen töten. Die Intention war genozidal. Und das sollte uns deutlich vor Augen führen, was geschähe, wenn die Hamas ihr Endziel erreichen und ganz Israel unter ihre Kontrolle bringen würde: ein zweiter Holocaust.
Es ist klar, dass die Hamas einen enormen Propagandasieg über Israel errungen hat. Aber was will die Organisation politisch oder militärisch mit einem solchen Massaker erreichen?
Orbach: Möglicherweise handelt es sich um einen „Overkill“, sprich: Die Terroristen hatten selbst nicht erwartet, sie würden derart viele Menschen töten können. Ich glaube nicht, dass sie das Ausmaß des militärischen Scheiterns vonseiten Israels vorausgesehen haben.
Aber der Hamas muss doch klar gewesen sein, dass Israel extrem hart zurückschlagen wird.
Orbach: Wir haben es hier nicht mit einer pragmatischen, sondern einer zutiefst ideologischen Bewegung zu tun. Und im Nahen Osten denken solche Bewegungen in historischen, langfristigen Begriffen. Sie glauben, sie seien Teil eines langen Plans, der vielleicht über Generationen andauert, um Israel zu zerstören. Und die Hamas schert sich nicht um menschliche Leben oder materielle Zerstörung. Sie nutzen die humanitären Impulse der Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg aus und verlassen sich darauf, dass jemand anders Gaza wieder aufbauen wird. Das Einzige, wovor sie sich fürchten, ist, ihre eigene Organisation sowie Territorium zu verlieren.
Dann hätten sie sich womöglich verkalkuliert: Nicht wenige Sicherheitsexperten in Israel fordern und erwarten, dass Israel die Hamas in Gaza jetzt komplett entmachtet.
Orbach: Definitiv. Ich glaube, die Hamas hat sich darauf verlassen, dass die Hisbollah sie unterstützt und in einen Zwei-Fronten-Krieg verwickelt. Das kann immer noch passieren. Aber ich vermute, dass die Hisbollah abgeschreckt wird von der erhöhten US-Präsenz (nachdem die USA einen Flugzeugträger und mehrere Kriegsschiffe ins östliche Mittelmeer verlegt hat, Anm. d. Red.), von der bedingungslosen Unterstützung der Amerikaner und auch der Europäer, auch der Deutschen, wofür wir sehr dankbar sind. Ich glaube außerdem, sie haben sich bei der Wahl des Zeitpunktes verkalkuliert. Vielleicht gelingt es ihnen, ein Abkommen zur Normalisierung zwischen Israel und Saudi-Arabien herauszuzögern. Aber sie haben die Bedeutung der Staatskrise in Israel, des Konflikts um die geplante Justizreform der Regierung, unterschätzt. Wenn es eine Sache gibt, die die Israelis zusammenbringt, dann ist es ein Angriff wie dieser. Und auch mit Blick auf die USA war der Zeitpunkt nicht klug. Präsident Joe Biden gehört zu einer älteren Generation von US-Politikern, die sich Israel sehr verpflichtet fühlt. Hätte die Hamas ein, zwei Generationen abgewartet, gäbe es vielleicht eine neue Generation von Politikern – in beiden der US-Parteien übrigens –, die weniger oder gar nicht israelfreundlich eingestellt ist. Die Hamas hat sich also in mehrfacher Hinsicht verkalkuliert. Aber ich bin vorsichtig, solange wir nicht wissen, wie alles enden wird. Auf Hebräisch gibt es einen Spruch: Zähle dein Geld erst an der Kasse.
Danny Orbach ist ein israelischer Professor für Militärgeschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem, sein Forschungsschwerpunkt sind Kriegsverbrechen.