Herr Masala, Politik und Wirtschaft blicken mit Bangen auf den 21. Juli, ob Russlands Präsident Wladimir Putin wieder den Gashahn aufdreht. Was würde ein Lieferstopp politisch bedeuten?
Carlo Masala: Wenn es wirklich zum Gas-Stopp käme, muss man angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen befürchten, dass Panik und Angst in der Gesellschaft stark zunehmen könnten. Damit würde der Druck auf die Bundesregierung und viele europäische Regierungen steigen, auf die Ukraine einzuwirken, mit Russland zu verhandeln und einen wie auch immer gearteten Friedensschluss zu akzeptieren. Aber ich glaube, dass Putin zum jetzigen Zeitpunkt nicht das Gas abdreht, sondern reduziert weiterlaufen lässt. Vielleicht erst ein paar Tage nach dem 21. Juli, um die Unsicherheit zu erhöhen. Wahrscheinlicher ist es eher, dass Russland im Herbst die Gaslieferungen stoppt.
Warum im Herbst?
Masala: Bis Herbst könnte es Russland gelingen, die militärische Kontrolle über den gesamten Donbass zu erlangen. Dann könnte Putin einen Waffenstillstand unter seinen Bedingungen anbieten. In dieser Gemengelage – hoher Inflation, ausbleibende Gaslieferungen plus das konkrete Angebot eines Waffenstillstands – besteht eine große Gefahr, dass die gesellschaftliche Stimmung in Europa kippt, um Russland Zugeständnisse zu machen.
Was wäre schlecht daran, sofort auf Waffenstillstandsverhandlungen zu drängen? Jeden Monat sterben weitere Menschen im Krieg …
Masala: Dass am Ende des Tages Verhandlungen stehen werden, weiß jeder. Aber Krieg und Verhandlungen stehen in einem wechselseitigen Verhältnis. Es wäre ein großer Fehler, jetzt die Ukraine zu einem Waffenstillstand zu drängen. Wir kennen das russische Verhalten. Die Russen haben in Syrien mehrere Waffenstillstände angeboten und alle Phasen dazu benutzt, ihre Truppen neu zu sortieren und aufzustocken. Ein jetziger Waffenstillstand hieße, dass Russland 20 Prozent der Ukraine dauerhaft besetzen wird, und würde vor allem auch kein Ende der Gewalt bedeuten: Wir wissen, wie die Russen in von ihnen besetzten Gebieten operieren. Da gibt es Standgerichte, willkürliche Erschießungen, Vergewaltigungen, Menschen werden verschleppt und vieles mehr. Es ist falsch zu glauben, dass bei einem Waffenstillstand das Sterben aufhört. Ein jetziger Waffenstillstand würde Russlands Vorgehen belohnen und Aggressionen in der Zukunft wahrscheinlicher machen. Wenn wir Putin mit diesem Aggressionskrieg davonkommen lassen, dann verändert sich das internationale System dauerhaft zu unserem Nachteil.
Welche Möglichkeiten hat der Westen, die zukünftigen Geschehnisse zu beeinflussen?
Masala: Wir sehen jetzt schon die Effekte, die beispielsweise die Lieferung von Mehrfach-Raketenwerfern aus dem Westen auf den Kriegsverlauf hat. Die ukrainische Armee zerstört damit russische Munitionsdepots und drängt die Versorgung von Putins Truppen ins Hinterland. Wir wissen, aus Chat-Gruppen russischer Offiziere, dass der Einsatz der westlichen Raketenwerfer sehr wirkungsvoll ist und die Russen bislang nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Der Westen hat mit den Waffenlieferungen einen entscheidenden Einfluss auf die militärische Situation in diesem Krieg und dass die Ukraine nicht auf verlorenem Posten kämpft.
Reichen diese für eine ukrainische Gegenoffensive?
Masala: Die Menge der gelieferten Waffen reicht natürlich nicht. Weil der Westen nie ausreichend liefern kann, ist die Kombination zwischen modernen westlichen und den alten ukrainischen Waffensystemen entscheidend. Deshalb ist es eine kluge Entscheidung in Rumänien, eine Waffenfabrik aus Warschauer-Pakt-Zeiten betriebsfähig zu machen, um 152-Millimeter-Munition für die ukrainische Artillerie sowjetischer Bauart herzustellen. Eine ukrainische Artillerie ohne Munition ist wirkungslos. Die westlichen Waffen ermöglichen es den Ukrainern, die Russen auf Distanz zu halten. Für Gegenoffensiven, um russisch besetzte Gebiete zurückzuerobern, braucht die Ukraine Kampfpanzer und Munition. Dann könnte die Ukraine versuchen, wichtige Städte wie Cherson zurückzuerobern, um den Fall von Odessa zu verhindern. Für große Geländegewinne fehlt den Ukrainern das hochmoderne westliche Gerät. Aber solange die USA, Großbritannien oder Frankreich nicht von der bisherigen Linie abweichen, wird es keine Lieferung von Kampfpanzern geben.
Das heißt, die Frage, ob die Ukraine einen Sieg erreichen kann, in dem die Wiederherstellung der Grenzen und Lage vom 23. Februar erreicht wird, stellt sich nicht mehr?
Masala: Doch. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass die Ukraine dieses Kriegsziel erreicht. Einen Sieg zu definieren, ist immer problematisch. Letzten Endes hat die Ukraine dann gewonnen, wenn sie Russlands Kosten-Nutzen-Kalkül so verändert, dass die Russen geschwächt an den Verhandlungstisch gezwungen werden. Ein ukrainischer Sieg hieße, die Russen zurückzudrängen und den Preis für Russland in die Höhe zu treiben. Putin scheut eine Generalmobilmachung wie der Teufel das Weihwasser. Das würde ihm vielleicht 800.000 Soldaten verschaffen, aber den Krieg weit in die russische Bevölkerung tragen. Wenn die Verluste hoch sind, wenn es die Söhne der Mittelschicht um Moskau und St. Petersburg trifft, riskiert Putin, dass die gesellschaftliche Zustimmung zu diesem Krieg in Russland kippt.
Kann Russland den Krieg in der Ukraine überhaupt gewinnen?
Masala: Nein. Russland kann diesen Krieg nicht gewinnen. Wir wissen aus der Geschichte, wenn Besatzer nicht gewollt sind, wird man sie bekämpfen. Das blüht den Russen genauso. Wir werden noch mindestens weit bis ins kommende Jahr mit diesem Krieg leben müssen, in welcher Form auch immer. Es zeichnet sich bereits ab, dass die ukrainische Armee hinter den feindlichen Linien in eine Partisanen-Taktik verfällt. Das wird zur Strategie der Ukraine werden, falls der Krieg Armee gegen Armee verloren ginge. So oder so, wird dieser Krieg noch lange dauern.
Hat die Gas-Frage die Debatte der Waffenlieferungen in Deutschland verdrängt?
Masala: Ja, die Bundesregierung hat die Diskussion um zusätzliche Waffenlieferungen ausgesessen. Die Kommunikation ist wirklich schlecht. Der Bundeskanzler hat erklärt, die Lieferung von Marder-Schützenpanzern wäre eine Eskalation, obwohl Deutschland den Gepard-Panzer liefert, der auch Bodenziele bekämpfen kann. Wenn man sich die Fakten anschaut, liefert Deutschland zwar nicht so wenig, wie oft dargestellt wird, aber es könnte mehr liefern. Gemessen daran, dass Deutschland die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt ist und ein großes Interesse an der Aufrechterhaltung einer liberalen Weltordnung haben muss, ist es bislang zu wenig.
Sie und viele andere Wissenschaftler haben in der „Frankfurter Allgemeinen“ gemeinsam eine stringente, nachvollziehbare Strategie gegenüber Russland gefordert. Warum gibt es die nicht?
Masala: Selbst innerhalb der einzelnen Regierungen gibt es unterschiedliche Positionen. Auch US-Präsident Joe Biden hat seinem Verteidigungsminister widersprochen, der erklärt hatte, man müsse Russlands Armee nachhaltig schwächen. Es gibt keine westliche Kriegsstrategie. Das ist auch verständlich, weil man sich in einem Konflikt mit einem Gegner, der ein nukleares Eskalationspotenzial hat, schrittweise herantasten muss, wie weit man gehen kann. Aber der Westen braucht eine gemeinsame Strategie, wie er mit autoritären Gegenspielern wie Russland und China dauerhaft umgehen will. Europa muss sich schon jetzt im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik darauf vorbereiten, was passiert, wenn in den USA 2024 Donald Trump oder ein Vertreter seiner Politik wiedergewählt wird. Und wir müssen bereits jetzt mit Blick auf die Ukraine Strukturen für eine Nachkriegsordnung schaffen. Sonst stehen wir am Ende keinen Meter besser da, als wir vor dem 24. Februar gestanden haben.
Was passiert, wenn diese Woche das Gas wieder fließt? Finanziert Deutschland über die Gaspreise Putins Krieg weiter indirekt mit?
Masala: Die Gefahr besteht, dass der Krieg in der Ukraine mit Wiederaufnahme der Gaslieferungen aus dem öffentlichen Bewusstsein entschwindet. Der Krieg in der Ukraine rückt bereits in den Nachrichten nach hinten. Wir finanzieren nicht den Krieg, aber wir finanzieren den Staat, der diesen Krieg führt. Doch der Krieg würde auch weitergehen, wenn wir Russlands Gas nicht mehr kaufen würden. Diese Krise führt uns aber vor Augen, wie verfehlt die Politik der letzten 20 Jahre war, sich so einseitig in die Abhängigkeit vom billigen russischen Gas zu begeben.
Zur Person: Carlo Masala, der 54-jährige Professor für Internationale Politik an der Münchner Bundeswehr-Universität, ist Experte für Sicherheitspolitik und Krisenfrüherkennung.