Deutschland hat eine historische Kehrtwende in seiner Sicherheitspolitik vollzogen. Sie hatten schon lange mehr Einsatz aus Berlin gefordert. Erkennen Sie Deutschland noch?
Anders Fogh Rasmussen: Ich war ein großer Kritiker des deutschen Zögerns, einem zunehmend aggressiv auftretenden Wladimir Putin nicht entschlossener entgegenzutreten. Umso mehr schätze ich die jetzt getroffenen Entscheidungen. Sie markieren einen Wendepunkt, nicht nur in der neueren deutschen Geschichte, sondern auch für Europa. Endlich hat sich Deutschland aus dem Schatten des Zweiten Weltkriegs gelöst. Es hat das getan, was wir von Deutschland erwartet haben. Seine wirtschaftliche Stärke wird sich künftig auch in einem stärkeren sicherheitspolitischen Engagement widerspiegeln. Jetzt fehlt nur noch, dass Altkanzler Schröder alle Jobs bei russischen Staatsunternehmen niederlegt. Das wäre ein sehr wichtiges politisches Signal. Ich würde ihn ermutigen, diese Entscheidung zu treffen.
Noch scheinen sich viele an den neuen Kurs gewöhnen zu müssen.
Rasmussen: Die Bundesregierung hat ihre Entscheidung, keine Waffen zu liefern oder nicht stark in die Verteidigung zu investieren, stets mit der eigenen Geschichte begründet. Aber sie zog die falschen Lehren. Eine Politik der Beschwichtigung mit Diktatoren führt niemals zu Frieden, sondern nur zu Konflikt oder sogar zu Krieg. Putin ist das beste Beispiel dafür. Er respektiert nur die Sprache der Stärke, der Kraft und Einheit. Wir haben uns seit 1997 sehr bemüht, Russland einzubinden. Putins Reaktion lautete stattdessen, 2008 Georgien und 2014 die Ukraine anzugreifen. Es ist doch im Grunde mehr als ironisch, dass er mit seinem aktuellen Vorgehen genau das Gegenteil von dem erreicht, was er erzielen wollte. Er stellt sich als treibende Kraft für mehr europäische Geschlossenheit innerhalb der EU dar. Er hat die Nato gestärkt und dafür gesorgt, dass mehr Nato-Truppen näher an die russischen Grenzen geschickt wurden. Er hat die Einheit zwischen der EU und den USA wieder hergestellt und einen dramatischen Wandel in der Haltung Deutschlands gegenüber Russland eingeleitet.
Trotz dieser Einheit, der Sanktionen gegen Russland und der Lieferung von mehr Waffen an die Ukraine nimmt dort die Gewalt von Stunde zu Stunde zu. Was kann der Westen noch tun?
Rasmussen: Wir haben mehr in der Hand. Es wäre ein harter Schlag für die russische Wirtschaft, wenn wir den Import von russischem Gas reduzieren würden. Fossile Brennstoffe betreffen nicht nur den Klimawandel, sondern sind auch eine sicherheitspolitische Frage. Russland nutzt und missbraucht Energie als Waffe. Wir sollten unsere Anstrengungen beschleunigen, um unsere Abhängigkeit zu verringern. Für Deutschland heißt das, auch die Laufzeitverlängerung bestehender Kernkraftwerke ernsthaft zu prüfen. Darüber hinaus sollte die EU erwägen, der Ukraine den Status als Beitrittskandidaten zu verleihen. Das bedeutet nicht, dass Kiew über Nacht EU-Mitglied würde, ganz im Gegenteil. Aber es wäre ein wichtiges Signal und würde den mutigen Ukrainern etwas Hoffnung geben.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat den Westen aufgefordert, über die Verhängung einer Flugverbotszone über Teilen des Landes nachzudenken.
Rasmussen: Eine Flugverbotszone wäre problematisch, weil sie von Nato-Flugzeugen eingerichtet werden müsste. Es wäre eine direkte Konfrontation zwischen Nato und Russland. Ich würde vielmehr empfehlen, den Ukrainern weiter mit militärischer Ausrüstung zu helfen, einschließlich Flug- und Panzerabwehrraketen und auch Drohnen, die sehr effizient sind. All das kann dazu beitragen, dass der Preis für die Russen immer höher wird.
Baltische Staaten wie Lettland und Litauen befürchten, als Nächstes auf Putins Liste zu landen. Denken Sie, er würde es wagen, ein Nato-Mitglied anzugreifen?
Rasmussen: Es wäre das Worst-Case-Szenario, das man leider nicht ausschließen kann. Insbesondere dann nicht, wenn Putin in der Ukraine Erfolg hat. Das könnte ihn ermutigen, weiter zu gehen, beispielsweise Schritte zu unternehmen, um die Enklave Kaliningrad mit dem russischen Festland zu verbinden. Dafür wären Gebiete von Litauen und Polen erforderlich. Es würde einen offenen Krieg mit der Nato bedeuten.
Düstere Aussichten, auch mit Blick auf die Atomdrohung aus Moskau. Wie bewerten Sie die?
Rasmussen: Wir sollten sie ernst nehmen. Eine Lektion ist, dass man Aussagen von Putin immer ernst nehmen muss. In der Vergangenheit gehörte zu unseren Fehlern, seinen Worten keinen Glauben geschenkt zu haben. Viele seiner Ziele hat er schon vor langer Zeit öffentlich geäußert. Im Übrigen ist es natürlich an sich schon unglaublich, dass ein russischer Präsident seine Nuklearstreitkräfte öffentlich in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Wir sollten deshalb auf das Schlimmste vorbereitet sein.
Sie haben Putin mehrfach getroffen, aber auch Sie haben noch vor kurzem den russischen Truppenaufmarsch als Bluff bezeichnet. Wie konnten sich so viele in ihrer Einschätzung irren?
Rasmussen: Putin hat sich verändert. Als ich ihn 2002 zum ersten Mal traf, argumentierte er mit großer Begeisterung für eine engere Beziehung zwischen Russland und dem Westen. Mit der Gründung des Nato-Russland-Rats gab es einen klaren Aufruf zu Konsultationen und einer Zusammenarbeit. Sie werden sogar einige öffentliche Äußerungen aus dem Jahr 2000 finden, in denen Putin sein Interesse bekundete, der Nato beizutreten. Nun verfolge ich mit Sorge sein unberechenbares, irrationales Verhalten. Er handelt wie ein Wahnsinniger. Russland ist jetzt international ausgestoßen, angeführt von einem politischen Gangster.
2008 scheiterte die Ukraine auch wegen der Haltung Deutschlands mit einem Antrag auf Nato-Mitgliedschaft und erhielt stattdessen eine symbolische Beitrittsperspektive. Die Begründung, man wolle Russland nicht provozieren, klang wie Hohn nach dem russischen Angriff auf Georgien sowie nach der Annexion der Krim, die Sie als Nato-Generalsekretär verfolgten. War es ein Fehler, die Ukraine nicht früher aufzunehmen?
Rasmussen: Wir haben viele Fehler gemacht. Zu ihnen gehört, dass wir uns auf dem Nato-Gipfel 2008 nicht dazu entscheiden konnten, der Ukraine und Georgien einen Aktionsplan für die Mitgliedschaft anzubieten. Das kann bei der Nato nur einstimmig beschlossen werden. Wir haben Putin das falsche Signal vermittelt. Er folgerte daraus, dass die Nato-Verbündeten schwach und uneinig sind. Dann griff er Georgien an, um eine klare Botschaft zu senden, dass wir uns nicht in seiner Nachbarschaft einzumischen haben. Von der Invasion der Krim wurden wir vollkommen überrumpelt und haben zu schwach und zu langsam reagiert. Rückblickend hätten wir Putin viel früher entgegentreten müssen.
Wie kommen wir aus dieser Krise nun heraus? Wir scheinen in einer Sackgasse zu stecken.
Rasmussen: Ja, wir stecken fest. Es ist schwer, eine friedliche Lösung zu sehen. Aber jeder Tag, an dem die Ukrainer dem russischen Aggressor Widerstand leisten können, ist nicht nur ein Gewinn für die Ukrainer, sondern für den Westen als solchen.
Drohen uns Jahrzehnte eines neuen Ost-West-Konflikts?
Rasmussen: Das hängt von der weiteren Entwicklung des Kriegs ab. Im besten Fall kommt es zu einer russischen Niederlage, in Folge der sich die Truppen aus der Ukraine zurückziehen und sich Putin auf die innere Stärkung seines Regimes in Russland konzentrieren muss, weil die Menschen frustriert sind. Aber wir könnten auch in einen Sumpf gezogen werden. Wenn es Putin etwa gelingt, die derzeitige ukrainische Regierung zu stürzen und ein pro-russisches Regime in Kiew zu installieren. Das würde zu viel Unsicherheit führen, zu Guerilla-Aktivitäten. Das ukrainische Volk würde weiter gegen diese neuen Herrscher kämpfen. Eine weitere Möglichkeit wäre in der Tat ein neuer Eiserner Vorhang in Europa, der Jahrzehnte andauern könnte.
Nutznießer wäre China ...
Rasmussen: Wir haben Putin und Xi Jinping gesehen, als sie sich am Rande der Olympischen Spiele getroffen und 5300 Worte herausgegeben haben, die ich das autokratische Manifest nenne, eine gemeinsame Erklärung, wie die beiden die liberale Weltordnung verändern wollen. Es ist deshalb von höchster Bedeutung, dass die Demokratien dieser Welt enger zusammenstehen, um den vorrückenden Autokratien entgegenzuwirken. Wir stellen mehr als 60 Prozent der globalen Wirtschaftskraft, das ist eine gewaltige Stärke. Nur so können wir Druck auf Moskau und Peking ausüben.
Zur Person: Anders Fogh Rasmussen, 69, war von 2001 bis 2009 Ministerpräsident Dänemarks und dann bis 2014 Nato-Generalsekretär. Er befürwortete den Nato-Beitritt der Ukraine.