General David Petraeus, Russlands Präsident Putin hat Alexander Dwornikow zum Kommandeur der russischen Streitkräfte in der Ukraine ernannt. Hat die Ernennung General Dwornikows, des „Schlächters von Syrien“, Auswirkungen auf die russische Kriegsführung?
David Petraeus: Ich vermute, dass sich die Konzentration der russischen Streitkräfte auf ein bestimmtes Gebiet als wichtiger erweisen wird als die Ernennung von General Dwornikow zum Befehlshaber aller russischen Streitkräfte in und um die Ukraine. Nichtsdestotrotz hatten die Russen in der vorherigen Situation die so wichtige einheitliche Befehlsgewalt eindeutig nicht etabliert. Ich hatte beispielsweise diese einheitliche Befehlsgewalt während der US-Truppenverstärkung im Irak und über die Koalitionstruppen auf dem Höhepunkt des Krieges in Afghanistan. Darüber hinaus ist Dwornikow natürlich am bekanntesten für den brutalen Feldzug, den er 2016 in Syrien beaufsichtigte, als die russischen Streitkräfte Aleppo grausam und wahllos bombardierten und viele Teile der Stadt entvölkerten. Die ukrainische Armee hat die russische Invasion zumindest vorübergehend aufgehalten, nicht zuletzt weil die Angreifer schwere strategische, operative und taktische Fehler machten. So haben die Russen möglicherweise schon im Vorfeld des Krieges keine angemessene Risikobewertung vorgenommen.
Haben die Russen jetzt aus ihren Fehlern gelernt?
Petraeus: Die russischen Streitkräfte konzentrieren sich eindeutig auf den Südwesten der Ukraine und scheinen die Absicht zu haben, den von ihnen derzeit kontrollierten Teil der Südost-Ukraine erheblich auszuweiten. Bislang haben sie dort nur bescheidene, sehr hart erkämpfte und kostspielige Gewinne erzielt. Das Gelände, ich war dort, ist offener und hügeliger und weniger bewaldet und weniger urban als das Gelände um Kiew, das den sehr entschlossenen, einfallsreichen und fähigen ukrainischen Streitkräften geholfen hat, die Russen weit vor der Stadt aufzuhalten und sie dann zurückzudrängen. Insbesondere dann, wenn die Gebiete im Südosten trocken sind und Kettenfahrzeuge, Panzer sowie gepanzerte Transporter in der Lage sind, abseits der Straßen zu fahren, könnten die Russen eine beträchtliche Masse an Truppen aufbieten.
Und wie reagieren die Streitkräfte der Ukraine?
Petraeus: Die Ukrainer versuchen, viele ihrer Streitkräfte aus der Nordukraine etwa 450 Meilen südöstlich neu zu positionieren und zu versorgen, und das wird kein Spaziergang sein. Auch brauchen die Ukrainer alle erforderlichen Materialien zur Errichtung massiver Hindernisse, um die russischen Angreifer zu verlangsamen und zu stoppen. Die Ukrainer können Russlands Einheiten mit den hoch entwickelten Panzer- und Flugabwehrraketen, die von den USA, Großbritannien und anderen westlichen Staaten zur Verfügung gestellt werden, sowie mit den ukrainischen Panzern, Schützenpanzern, Artilleriegeschützen, Mörsern, Drohnen und Luftunterstützungsflugzeugen für Bodentruppen vernichten.
Welche Art von schweren Waffen braucht die ukrainische Armee, um die russische Aggression insgesamt zu vereiteln?
Petraeus: Wie ich bereits erwähnt habe: Die Ukrainer brauchen Panzer, Artillerie, Schützenpanzer, Javelin-Panzerabwehrlenkraketen, Stinger-Flugabwehrlenkraketen, Mehrfachraketenwerfer, Mörser, Kampfhubschrauber, Drohnen sowie Flugzeuge und Helikopter zur Erdkampfunterstützung. Weiter benötigen die Ukrainer Pionierausrüstung, Erdbewegungsgeräte und Material für die Errichtung komplexer Hindernisse, einschließlich Panzerabwehrminen. Im russischen Offizierskorps scheint es einen gewissen Widerstand gegen Putins Krieg zu geben.
Stellen Kriegsverbrechen einen wesentlichen Bestandteil der russischen Militärdoktrin dar, und sind die russischen Truppen überhaupt in der Lage, einen Feldzug so zu führen, wie es eine moderne Berufsarmee tun sollte?
Petraeus: Die US-Armee und die westlichen Armeen haben sehr hart daran gearbeitet, eine Kultur aufzubauen, die sich an die geltenden Einsatzregeln hält, die stets auf den Genfer Konventionen und dem Recht der Landkriegsführung beruhen. Wir haben im Laufe der Jahre Fehler gemacht, einige davon sehr schwerwiegend. Zum Beispiel waren das die Misshandlungen im Gefangenenlager Abu Ghraib zu Beginn des Irak-Einsatzes 2003. Aber das waren Ausnahmen, nicht die Regel. Und wir haben sie immer untersucht, die entsprechenden rechtlichen Schritte eingeleitet, versucht, aus den Situationen zu lernen, und Maßnahmen ergriffen, um eine Wiederholung solcher Fehler zu vermeiden.
... und die Russen?
Petraeus: Die russische Armee scheint eine Kultur errichtet zu haben, die sich durch häufige und wiederholte Kriegsverbrechen auszeichnet: Tötung und Vergewaltigung unschuldiger Zivilisten, Tötung und Misshandlung von Kriegsgefangenen und Häftlingen, Zerstörung der zivilen Infrastruktur, gezielte Angriffe auf zivile Einrichtungen wie den Bahnhof in Kramatorsk, die Entbindungsklinik in Mariupol und so weiter. Solche Aktionen sind barbarisch, sie scheinen die Regel und nicht die Ausnahme zu sein. Im Zeitalter allgegenwärtiger Smartphones, kommerzieller Satellitenbilder und sozialer Medienplattformen werden die unsäglichen Taten der russischen Truppen sehr deutlich dokumentiert und können nicht geleugnet oder bestritten werden. Diese Attacken der russischen Soldaten sind auch sehr, sehr töricht. Die Taten verstärken den Hass der Ukrainer auf die Russen und tragen dazu bei, dass sich ein starker ukrainischer Nationalismus und eine Ablehnung Russlands ausbreiten. Ironischerweise hat Putins Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, mehr dazu beigetragen, den ukrainischen Nationalismus zu schüren und zu fördern als jede andere Entwicklung in der postsowjetischen Ära. Russlands Streitkräfte haben große Verluste an Personal und Waffen erlitten, wie jetzt den Raketenkreuzer Moskwa. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht.
Interview: Jan Dirk Herbermann
David Petraeus, 69, diente mehr als 37 Jahre im US-Militär. Der Vier-Sterne-General war unter anderem Befehlshaber der Multi-National Force im Irak und führte die Koalitionstruppen in Afghanistan. Später leitete er den CIA.