Herr Oettinger, Sie waren vor zehn Jahren EU-Kommissar für Energiepolitik, als in Deutschland weitreichende Entscheidungen mit Folgen für die heutige Energiekrise getroffen wurden: Der Atomausstieg nach der Katastrophe von Fukushima 2011 und die Festlegung auf die Gaspipeline Nord Stream 2. Sie hatten in Brüssel öfters Konflikte mit den damaligen Bundesregierungen in Berlin. Wie haben Sie die Zeit erlebt?
Günther H. Oettinger: Die Entscheidung über die Nutzung der Kernkraft war, ist und bleibt Sache der Mitgliedsstaaten. Einige Staaten setzen auf Kernkraft, andere nutzen sie nicht oder sind klar dagegen. Deshalb hatte die EU-Kommission den Ausstieg Deutschlands nach Fukushima zu akzeptieren. Wir haben damals für alle Staaten mit Kernkraft strenge Stresstests und hohe Sicherheitsanforderungen eingeführt, ebenso klare Vorgaben für die Endlagerung. Auch bei Nord Stream 2 haben wir Vorgaben erzwungen, zum Beispiel eine klare Trennung zwischen Gasproduzenten und Pipeline-Betreibern, oder auch Transparenz bei der Kostenkalkulation. Dies haben wir gegen erhebliche Widerstände der deutschen Regierung und der beteiligten Firmen wie Gazprom durchgesetzt.
Welche Fehler wurden damals gemacht?
Oettinger: Man muss Deutschland zugutehalten, dass russische Gaslieferungen auch in Zeiten des Kalten Krieges sicher waren und außerhalb jeder politischen Debatte standen. Aber es war ein Fehler, dass die deutsche Politik immer stärker einseitig auf Russland, anstatt auf unterschiedliche Lieferanten gesetzt hat und die Abhängigkeit über die Jahre immer weiter erhöhte. Andere Lieferländer und Quellen wurden bewusst vernachlässigt. Spätestens nach der Annektierung der Krim im Jahr 2014 hätte man mit mehr Realismus als die damalige Große Koalition auf die große Energieabhängigkeit von Russland reagieren müssen. Stattdessen wurden in den Folgejahren sogar Pilotförderanlagen für das Fracking von heimischem Gas verboten.
Sie selbst hatten 2014 nach Wladimir Putins Einverleibung der Krim die Bundesregierung aufgefordert, über Fracking von heimischem Schiefergas nachzudenken, um die Abhängigkeit von russischen Gasimporten zu senken. Glauben Sie, dass das Fracking-Tabu nun langsam brechen wird?
Oettinger: Fracking wird weder die Probleme dieses noch des nächsten Winters lösen, der uns noch viel größere Probleme bereiten könnte, als die kommenden Monate. Doch Deutschland muss sich endlich ehrlich machen und erkennen, dass wir noch lange Gas brauchen werden. Für die Wärme, für die Industrie, die Produktion vieler Industriegüter und vermutlich auch für die Verstromung. Wenn wir Industrieland bleiben wollen, dann brauchen wir langfristig große Mengen an bezahlbarem Gas. Fracking in Deutschland wäre in jedem Fall kostengünstiger als Importe aus den USA oder Katar. Es ist ziemlich scheinheilig, dass wir Fracking-Gas aus Kanada und den USA tausende von Meilen zu uns transportieren – mit Schiffen, die dafür Massen an klimaschädlichem Schweröl als Treibstoff verbrauchen. Aber wir selbst sind uns zu fein für die Förderung. Wir müssen eine offene Debatte über Fracking in Deutschland führen und es mit Pilotprojekten erproben.
Nicht nur bei Fracking wird über eine Kehrtwende der Politik debattiert. Wie bewerten Sie, dass die Koalition tief über die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke zerstritten ist?
Oettinger: Niemand in Europa versteht die deutsche Debatte. Niemand versteht, dass zu einem Zeitpunkt, an dem ganz Europa die Abhängigkeit von Öl und Gas aus Russland massiv verringern will, Deutschland große Kernenergie-Kapazitäten auf Dauer stilllegen will. In Brüssel herrscht darüber nur noch Kopfschütteln. Im Winter 2023 steht vermutlich gar kein Gas und Öl aus Russland zur Verfügung und die Versorgung wird noch schwieriger als jetzt. Eine Laufzeitverlängerung um drei Jahre wäre deshalb sehr naheliegend und sinnvoll. Das heißt aber, dass man jetzt die Brennstäbe beschaffen muss. In dieser Krise muss das Gemeinwesen in Europa im Mittelpunkt stehen und nicht Parteipolitik oder Ideologie. Die Ampel hat sich als Ziel in den Koalitionsvertrag geschrieben, dass aus der EU ein „europäischer Bundesstaat“ werden soll. Mit ihren nationalen Alleingängen macht sie aber das Gegenteil. Stichwort „Doppelwumms“. Kernkraftwerke abzuschalten, obwohl Europa großen Strombedarf hat, gefährdet die Stellung und das Ansehen Deutschlands.
Was soll falsch daran sein, wenn die Bundesregierung stattdessen auf den Ausbau klimafreundlicher Erneuerbarer Energien und in fernerer Zukunft auf Wasserstoff-Importe setzt?
Oettinger: Wenn wir ein Industrieland bleiben wollen, wenn wir Stahl, Kupfer, Aluminium herstellen wollen, wenn wir weiter Chemiewerke wie in Bayern in Burghausen behalten wollen, brauchen wir riesige Mengen an Strom und zwar zuverlässig rund um die Uhr, wie sie Kern- oder Verbrennungskraftwerke liefern. Die Erneuerbaren sind hier kein Ersatz ohne Ausgleich durch Gaskraftwerke. Das ist das Missverständnis in Deutschland. Strom ist nicht in ausreichenden Großmengen speicherbar. Und Strom muss bezahlbar bleiben, das gilt erst recht für zukünftige Wasserstoff-Pläne.
Die Menschen in Deutschland haben die Erneuerbaren Energien jahrzehntelang zur Marktreife mit der EEG-Umlage hochsubventioniert. Heute erzeugen Solaranlagen und Windräder auch dadurch den billigsten Strom pro Kilowattstunde. Doch die Deutschen zahlen weltweit die höchsten Strompreise. Auch die Industrie für Windkraft- und Solaranlagen sitzt inzwischen im Ausland. Was ist da schiefgelaufen?
Oettinger: Der Hauptfehler war, dass wir ein europäisches Erneuerbare-Energien-Gesetz und einen freien Energie-Binnenmarkt gebraucht hätten, wie wir es in der EU vorgeschlagen haben. Dann hätte man erkannt, dass es besser ist, Solarkraftwerke in Zentral- oder Südspanien zu installieren, anstatt teuer im Emsland. Auch Bayern ist ein schönes Land, aber Orangen wachsen in Andalusien, wo die Sonne doppelt so viele Stunden scheint. Wir brauchen im europäischen Stromnetz vor allem Windkraftanlagen an Europas Küsten und nicht im Schwarzwald. Wir haben mit sehr hohen Kosten Erneuerbare an Standorten installiert, wo sie wenig Leistung bringen und sie deshalb auf Kosten der Verbraucher hoch subventioniert, damit sie sich auch in schlechten Lagen lohnen. Aber Deutschland wollte keine Europäisierung der Erneuerbaren-Förderung.
Sie haben als EU-Kommissar für einen Binnenmarkt für Energie gekämpft, wie es ihn in anderen Wirtschaftsbereichen gibt. Warum ist man bis heute damit nicht weit gekommen?
Oettinger: Der Binnenmarkt ist eine der größten Errungenschaften Europas. Wir haben einen Binnenmarkt für Waren und Güter, für Dienstleistungen, für Geld und auch die Freizügigkeit von Menschen. Genauso richtig ist es, einen Binnenmarkt für Energie aufzubauen als europäische Energieunion. Wir sind auf dem Weg, aber längst nicht am Ziel. Wir haben viel erreicht bei der Infrastruktur, wir können Strom, Öl und Gas von einem an das andere Ende Europas transportieren. Aber beim Import von Energie oder auch beim Ausbau der Erneuerbaren Energien handeln wir immer noch rein national. Es gibt kein gemeinsames europäisches System der Ausbau-Förderung Erneuerbarer Energien, obwohl das längst überfällig ist, für den Klimaschutz, im Interesse der Versorgungssicherheit und der Wirtschaftlichkeit. Wir müssen auch hier alles dafür tun, damit Europa nicht zum Absteiger-Kontinent wird.
Zur Person: Günther H. Oettinger: Der 69-jährige CDU-Politiker aus Stuttgart war von 2005 bis 2010 Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Danach wechselte er zur EU-Kommission, wo er zunächst Kommissar für Energie wurde, danach für Digitales und anschließend bis 2019 für Finanzen.