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Interview: Ex-Bundestagspräsident Thierse zu Rechtsextremismus: "Das darf man nicht hinnehmen"

Interview

Ex-Bundestagspräsident Thierse zu Rechtsextremismus: "Das darf man nicht hinnehmen"

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    Auch die Corona-Proteste wurden vielerorts von rechten und rechtsextremen Gruppierungen unterwandert, wie hier bei einer Demonstration der "Freien Sachsen" in Chemnitz.
    Auch die Corona-Proteste wurden vielerorts von rechten und rechtsextremen Gruppierungen unterwandert, wie hier bei einer Demonstration der "Freien Sachsen" in Chemnitz. Foto: Bodo Schackow, dpa.

    Herr Thierse, seit Beginn der Corona-Pandemie haben rechte Verschwörungstheoretiker einen großen Zulauf. Dieser Tage warnen viele Stimmen angesichts steigender Gas-Preise und dem Krieg in der Ukraine vor einem „Wut-Winter“, der von Rechtsextremisten unterwandert werden könnte. Wie groß ist Ihre Sorge um die nächsten Monate?
    WOLFGANG THIERSE: Dass Staat und Polizei sich darauf einstellen, ist das eine. Wir sollten aber nichts herbeireden. Mich ärgert es, dass bekannte Politiker schon von einem bedrohlichen Herbst reden und damit eine Gefahr größer machen, als sie vielleicht ist. Aber ganz nüchtern betrachtet: Wir wissen, dass wir in Zeiten der Zuspitzung leben. Die Stimmung im Lande ist aggressiver geworden, die Spaltungen in den politischen Wahrnehmungen und Meinungen sind größer geworden und offensichtlich ist auch am Rande der Gesellschaft die Gewaltbereitschaft größer geworden. Ob sich das im Herbst noch einmal zuspitzt, das kann ich nicht vorhersagen. Ich will es mir nicht wünschen.

    Wie bewerten Sie die Lage in Ostdeutschland? In Sachsen entstand Pegida, die AfD wurde dort im vergangenen Jahr gar stärkste Kraft. Auch der Großteil aller rechtsextremen Angriffe findet in Ostdeutschland statt.
    THIERSE: Es geht nicht nur um ein ostdeutsches Problem, aber in Ostdeutschland ist die Problematik schärfer. Dort trifft die gegenwärtige Veränderungsdramatik auf Menschen, die bereits in den vergangenen 30 Jahren dramatische Veränderungen zu überstehen hatten. Nicht alle mit Erfolg, nicht alle sind Sieger. Das heißt, dort potenzieren sich noch einmal Unsicherheiten und die Ängste, die durch heftige Veränderungen erzeugt werden. Dort hat sich alles dramatisch gewandelt: die politischen Verhältnisse, die ökonomischen Verhältnisse, die soziale Realität.Es gibt die Erfahrung von Massenarbeitslosigkeit, die Erfahrung von Arbeitsplatzverlust, die Erfahrung, dass vieles von dem, was das eigene Leben ausgemacht hat, nicht mehr zählt. Das macht unsicher und jetzt kommen die nächsten Veränderungen. Da werden Menschen empfänglich für Leute, die sagen, wir müssen die Grenzen dicht machen, wir dürfen nicht solidarisch sein mit der Ukraine, wenn uns das die Energiepreise verteuert, wir wollen keine Flüchtlinge aufnehmen.

    Wie hat sich unsere Gesellschaft und auch der Umgang der Gesellschaft mit Rechtsextremismus verändert?
    THIERSE: Wir sind in Zeiten dramatischer Veränderungen. Ich nenne nur die Stichworte: Globalisierung, digitale Transformation, die drohende ökologische Katastrophe, die es abzuwenden gilt, Flüchtlinge, die kriegerische Unordnung in der Welt, zuletzt der Ukraine-Konflikt. All das führt zu tiefen Verunsicherungen bei Menschen und zu dem Wunsch nach einfachen schnellen Antworten, nach der Erlösung von all den bedrängenden Problemen und Konflikten. Solche Erlösung kann demokratische Politik nicht liefern, das darf sie noch nicht mal versprechen.Das sind die Zeiten für Populisten, die großen und kleinen Vereinfacher und Schuldzuweiser, die plötzlich viele Anhänger gewinnen. Das ist eine große Herausforderung für die Demokratie. Demokratie ist ihrer inneren Natur nach langsam, weil sich an ihren Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen möglichst viele beteiligen sollen. Ein Diktator kann schnell sein. In der Demokratie geht es langsamer zu und das erzeugt wieder Ungeduld und Unzufriedenheit. Das ist eine gefährliche Situation und die Herausforderung für Demokraten, und zwar nicht nur die Berufspolitiker, sondern für alle, die sich für Politik interessieren und die diese Demokratie verteidigen wollen und müssen gegen die Populisten und Extremisten.

    Sie sehen die Verteidigung der Demokratie als gesamtgesellschaftliche Aufgabe aller?
    THIERSE: Ohne Zweifel. Nüchtern betrachtet ist Demokratie ein Institutionsgefüge und ein Regelwerk, dessen man sich bedient, um für die eigene Meinung und Interessen einzutreten. Aber das Regelwerk ist ein Regelwerk der gleichen Rechte für alle. Es ist ein Regelwerk des friedlichen Streites miteinander und der Abwehr von Gewalt. Dessen müssen sich Bürger bewusst sein.Das heißt, die Verteidigung der Demokratie, ihrer Institutionen und Regeln und ihrer Akteure ist Sache der Bürgergesellschaft insgesamt. Und deswegen wünsche ich mir, dass im Alltag Nachbarn und Freunde und Verwandte widersprechen, wenn Nachbarn, Freunde und Verwandte plötzlich rechtsextreme Ansichten äußern oder den sogenannten Querdenkern hinterherlaufen und ihre Wut in Gewalt übersetzen. Das darf man nicht hinnehmen.

    Wie sollen Gesellschaft und Politik dann mit Protesten umgehen, die von Demokratiefeinden unterwandert werden?
    THIERSE: Es ist wichtig, zu unterscheiden: Angst und Hass sind sehr verschiedene Emotionen. Ängste überwindet man nicht durch Schulterklopfen oder dass man sagt, es gebe keinen Anlass dafür. Natürlich gibt es Anlass für Ängste und Unsicherheiten und darüber muss man reden und miteinander diskutieren. Die Politiker haben die Anstrengungen zu unternehmen, die Ängste erzeugenden Probleme zu lösen. Und demokratische Politik hat für die gerechte Verteilung von Lasten und Früchten zu sorgen, etwa bei der Bewältigung der Energie-Krise.Das alles geht in einer Demokratie immer nur langsam. Wunder gibt es nur ganz selten. Sie zu fordern oder zu erwarten, produziert immer wütende Enttäuschung. Aber Hass gegen andere, gegen die Demokratie, gegen die Demokraten – dem müssen wir energisch widersprechen. Diejenigen, die die ängstigenden Probleme benutzen, um die Demokratie kaputtzumachen, müssen wir entlarven. Deswegen sollen Protestierende genau hinsehen, mit wem zusammen sie auf die Straße gehen: Folge ich einem AfD-Aufruf oder einem von Extremisten. Und wer alt genug ist, sollte sich daran erinnern, dass vor 90 Jahren auch schon einmal eine deutsche Demokratie zerstört worden ist durch Unzufriedenheit und Demokratiefeindschaft und Gewaltbereitschaft.

    Der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestags, Wolfgang Thierse, bei einer Veranstaltung zur Vorstellung eines Konzepts zum Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen.
    Der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestags, Wolfgang Thierse, bei einer Veranstaltung zur Vorstellung eines Konzepts zum Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen. Foto: Michele Tantussi, dpa.

    Derzeit wird den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen vor 30 Jahren gedacht. Welchen Platz nehmen die Ereignisse in der deutschen Erinnerungskultur ein?
    THIERSE: Ich fürchte keinen sehr großen, weil sich inzwischen so viele andere rechtsextremistische Ereignisse bis hin zu Mordtaten in unser Gedächtnis geschoben haben, dass die Ereignisse in Rostock überschattet werden. Man denke nur an den NSU und seine Mordtaten. Ich fürchte, dass sich die deutsche Öffentlichkeit schon an den Rechtsextremismus gewöhnt hat.

    Ist es deshalb in Ihren Augen wichtig, dass man sich heute an solchen Jahrestage erinnert und sich damit auseinandersetzt?
    THIERSE: Ja, es ist notwendig, weil wir uns nicht gewöhnen dürfen. Vor 30 Jahren war das Erschrecken noch sehr groß im Lande. Ich erinnere mich auch selbst, wie groß mein eigenes Erschrecken war und wie ich damals das Gefühl hatte: Dass der alte braune Ungeist wieder aufersteht, darf nicht der Preis der wunderbaren deutschen Einheit sein. Aber jetzt sehen wir, dass rechtsextreme Gesinnung, rechtsextreme Straftaten und Gewalt zu unserem demokratischen Alltag gehören, und das ist eine furchtbare Tatsache.

    Zur Person

    Wolfgang Thierse war zwischen 1998 und 2005 Präsident des Deutschen Bundestags. Er war aktiv in der DDR-Bürgerbewegung, stellvertretender SPD-Vorsitzender und ist Schirmherr der Amadeu-Antonio-Stiftung.

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