Herr Weber, Europa erlebt eine der größten Sicherheitskrisen seit Jahrzehnten. Das lenkt auch den Blick auf China. Hat uns der Ukraine-Krieg gelehrt, dass wir autoritären Regierungen besser nicht vertrauen, weil sie keine verlässlichen Partner sind?
Manfred Weber: Mit dem 24. Februar 2022 ist nicht nur der Krieg auf europäischen Boden zurückgekehrt, sondern die Welt hat sich mit diesem Datum fundamental geändert. Die Erklärung von Russland und China kurz vor Kriegsbeginn, in der sie sich die unverbrüchliche Freundschaft versichert haben, zeigt, dass wir eine Zeitenwende erleben. Und das muss jedem bewusst sein. Die zentrale Konsequenz ist, Abhängigkeiten gegenüber denen zu reduzieren, die uns ein anderes Gesellschaftsmodell überstülpen wollen. Wir dürfen gegenüber China nicht mehr naiv sein.
Waren wir lange zu naiv? Das Prinzip „Wandel durch Handel“ hat ja schon im Umgang mit Russland nicht funktioniert.
Weber: Ich habe jahrelang Kritik geübt an der russischen Gaspipeline Nord Stream 2. Andererseits werfe ich niemandem vor, mit Hoffnung und Optimismus auf andere zugegangen zu sein. Das war die Grundhaltung in den vergangenen Jahren, sowohl gegenüber Russland als auch gegenüber China. Aber der Blick zurück hilft uns ja nicht weiter, nun geht es darum, unsere Lektion zu lernen. Und die heißt: Europa muss selbstbewusst werden, Europa muss eigenständig werden, Europa muss klare Ziele definieren. Wir müssen die Zeitenwende, in der wir leben, selbstbewusst gestalten.
Wie kann das gelingen? Schon die harte Linie gegenüber Russland kostet Deutschland Wohlstand.
Weber: Zeiten der Veränderung sind immer herausfordernde Zeiten. Es ist wichtig, dass die Politik das den Menschen auch ehrlich sagt. Es wird kein einfaches „weiter so“ mehr geben. Gerade wir in Bayern haben goldene Jahre erlebt. Doch unser bayerisches, unser deutsches, unser europäisches Geschäftsmodell, mit dem wir die vergangenen 30 Jahre unseren Wohlstand aufgebaut haben, ist beendet. Denn es basiert darauf, dass wir günstige Rohstoffe wie Gas aus Russland, aus Asien, aus der Türkei bekommen und sie bei uns zu guten Produkten veredeln und schließlich auf die Wachstumsmärkte vor allem in Asien weiterverkaufen. Das ist vorbei. Bei der Energie sehen wir das aktuell durch den Konflikt mit Russland. Und bei den Absatzmärkten hat der chinesische Präsident Xi Jinping eine klare Richtung vorgegeben: Er will den chinesischen Binnenmarkt ankurbeln. Das heißt, dass China weniger importieren wird. Wenn wir uns diese beiden Aspekte anschauen, dann müssen wir zu dem Schluss kommen: Die wirtschaftliche Welt wird sich fundamental ändern. Und auf diese Veränderung müssen wir uns einlassen. Wer glaubt, wir können einfach weitermachen, der ist naiv.
Keine guten Aussichten…
Weber: Allerdings hat die Politik auch die Aufgabe, eine Perspektive aufzubauen. Meine Perspektive ist: Wir müssen Freihandelszonen mit jenen aufbauen, die ähnlich ticken wie wir Europäer, die zumindest im Kern unsere Prinzipien teilen. Ich denke da an Südafrika, an Indonesien, an Indien. Vor knapp 50 Jahren ist Franz-Josef Strauß nach China geflogen, heute müssen wir in den Flieger steigen und nach Indien fliegen. Mit Japan und Kanada haben wir schon gut funktionierende Kooperationen, aber wir brauchen mehr Länder. Wir müssen eine Freihandelszone der freien Welt gründen. Die könnte 60 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts bündeln und hätte viel Kraft, um zu gestalten.
Das heißt, wenn wir uns unabhängiger von China machen, muss das nicht gleichbedeutend sein mit einer De-Globalisierung?
Weber: Wir brauchen Partnerschaften, wir brauchen die Globalisierung. Aber wir müssen die Phase der Naivität beenden. Wenn wir uns heute die Abhängigkeiten der deutschen Industrie gegenüber China anschauen, der Chemieindustrie, der Automobilindustrie, dann möchte ich gar nicht wissen, in welcher Welt wir im Jahr 2030 leben – das könnte eine Welt sein, in der wir Deutsche nicht mehr die Kraft haben, eine eigenständige Politik zu betreiben. Davor warne ich. Wir müssen jetzt umsteuern. Das heißt nicht, dass wir unsere Handelsbeziehungen mit China komplett abbrechen, sondern dass wir die Abhängigkeit im Blick behalten.
Warum geschieht das nicht schon längst?
Weber: Manches ist schon geschehen. Wir haben beispielsweise das sogenannte Prinzip der Reziprozität beschlossen. Wenn China europäische Firmen von öffentlichen Ausschreibungen ausschließt, dann machen wir im eben das gleiche für chinesische Firmen. Das ist ein wichtiger Schritt. Europa verteidigt sich. Entscheidend ist, dass die EU-Kommission diese Werkzeuge auch nutzt.
Wie nehmen Sie die Entwicklung Chinas wahr? Gerade seit der Corona-Pandemie scheint das Regime noch radikaler geworden zu sein in seinen Entscheidungen.
Weber: China hat im Inneren gewaltige Aufgaben und viele Spannungen zu bewältigen. Die Null-Covid-Politik kommt an ihre Grenzen. Noch immer befinden sich komplette Städte in einem Lockdown. Es gibt Probleme im Immobiliensektor. Die Wirtschaft ist in einer schwierigen Lage. In China werden allein in diesem Jahr 11 Millionen Studenten auf den Arbeitsmarkt strömen, das ist für ein Land, in dem die Wirtschaft empfindlich schwächelt, eine riesige Herausforderung. Schon jetzt liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 20 Prozent. Zugleich flüchtet sich Präsident Xi in die Konzentration von Macht. Wenn er im Herbst wiedergewählt wird, wird er unbegrenzte Macht haben und China damit zur De-facto-Diktatur werden.
Will China eine neue Weltordnung?
Weber: China ist von seiner eigenen Gesellschaftsordnung zutiefst überzeugt. Die Propaganda, mit der dies in die Köpfe der Menschen transportiert wird, ist bedrückend. Wie stark China künftig imperial auftritt und andere auf den eigenen Weg zwingen will, muss man abwarten.
Im Moment richtet sich unser Blick vor allem auf die Ukraine. Derweil schaukelt sich der Konflikt der Supermächte USA und China hoch. Wird das der bestimmende Konflikt der kommenden Jahrzehnte?
Weber: Der eigentliche Konflikt wird ein Wertekonflikt sein. Es geht um das Ringen von autoritären Staaten und von freiheitlichen Demokratien. Es braucht keine prophetische Gabe, um vorherzusagen, dass Taiwan ganz schnell zur Ukraine Asiens werden kann. Wer sich die Entwicklungen der vergangenen Jahre in Hongkong anschaut, der weiß, worum es geht. Deshalb müssen wir differenzieren. Es gib Bereiche, in denen wir die Abhängigkeit reduzieren müssen. Und es gibt Bereiche, in denen wir eng zusammenarbeiten müssen, etwa beim Thema Klimaschutz. Aber es gibt eben auch Felder, auf denen China ein echter Gegner ist, und das ist das Feld der Wertesysteme. Dieser Wettbewerb der Werte wird angeführt durch die zwei großen Mächte China und USA.
Und was ist mit Europa?
Weber: Es ist tragisch, dass bei der Aufzählung der großen Mächte Europa heute nicht vorkommt. Wirtschaftlich können wir ohne Probleme mithalten, wir sind der größte Binnenmarkt der Welt – vor den Chinesen, vor den Amerikanern. Aber es gelingt uns nicht, uns politisch zu verständigen. Europa muss sich fit machen für die Welt, in der wir morgen leben werden. Die EU muss das Prinzip der Einstimmigkeit abschaffen. Sie braucht eine abgestimmte China-Politik. Dass wir nicht einmal ein Grundkonzept haben, in dem festgeschrieben ist, wie wir unsere Beziehungen gegenüber Peking gestalten wollen, ist ein Ausdruck dieser Hilflosigkeit. Außerdem müssen wir eine Verteidigungsgemeinschaft aufbauen, Europa muss auch militärisch ein ernst zu nehmender Faktor werden. Wenn Russland uns zeigt, dass Krieg auf europäischem Boden wieder möglich ist, muss Europa bei der Verteidigung enger zusammenstehen.
Wie realistisch ist das? Ist Europa nicht längst erschöpft vom ständigen Krisen-Modus?
Weber: Gerade in Krisen hat Europa immer wieder gezeigt, dass es die Kraft hat, zusammenzustehen. Mit dem Corona-Wiederaufbauplan ist es uns etwa gelungen, in Europa wirtschaftlich wieder durchzustarten. In diesem Jahr ist es uns trotz unserer Vielstimmigkeit gelungen, sieben Sanktionspakete gegen Russland auf den Weg zu bringen. Wichtig ist für die Zukunft, dass wir nicht mehr nur reagieren, sondern agieren. Wir dürfen nicht abwarten, was die Zukunft uns bringt, sondern wir müssen die Zukunft gestalten. Und dazu müssen wir jetzt Strukturen verändern. Das ist eine klare Aufforderung an Bundeskanzler Olaf Scholz und Präsident Emmanuel Macron: Berlin und Paris müssen hier vorangehen und für den nächsten EU-Gipfel konkrete Beschlüsse vorbereiten. Wann, wenn nicht jetzt?
Zur Person: Manfred Weber, 50, ist Vorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP) und damit als Chef der europäischen Christdemokraten einer der mächtigsten Politiker in Brüssel . Seit 2015 ist der Niederbayer zudem stellvertretender Parteivorsitzender der CSU.