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Interview: „Es war faszinierend, mitzuerleben, wie eine scheinbar allmächtige Diktatur plötzlich ins Wanken geriet“

Interview

„Es war faszinierend, mitzuerleben, wie eine scheinbar allmächtige Diktatur plötzlich ins Wanken geriet“

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    Rüdiger von Fritsch (Zweiter von links) gemeinsam mit seinem Vetter Thomas (Mitte) und den Freunden.
    Rüdiger von Fritsch (Zweiter von links) gemeinsam mit seinem Vetter Thomas (Mitte) und den Freunden. Foto: Rüdiger von Fritsch

    Herr von Fritsch, was bedeutet für Sie Freiheit?
    RÜDIGER VON FRITSCH: „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit“ hat der griechische Staatsmann Perikles schon vor zweieinhalbtausend Jahren gesagt. Freiheit ist das unschätzbare Geschenk, anders denken und sein, entscheiden und handeln zu dürfen. Das ist untrennbar verbunden mit der Verpflichtung, eigenständig zu denken, zu entscheiden und zu handeln und die Freiheit des anderen zu respektieren. Und sich gegebenenfalls auch gegen Widerstände für das als richtig erkannte einzusetzen. „Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut“, hat Perikles seinen Satz vollendet.

    In diesem Herbst jährt sich der Mauerfall zum 35. Mal. Für viele Menschen verliert das Datum an positiver Bedeutung. Wie ist das bei Ihnen?
    VON FRITSCH: Die Mauer ist ja in Wirklichkeit nicht gefallen, sondern von mutigen, freiheitsliebenden Menschen in der damaligen DDR – gewaltfrei – umgestoßen worden. Für mich bleibt es der vielleicht glücklichste Moment von mir erlebter Geschichte. Zu Recht erinnern wir uns dauerhaft der dunklen Zeiten unserer Vergangenheit. Aber wir brauchen auch die Erinnerung an die hellen, guten Momente als Vorbilder – wie an den 9. November 1989 oder an den revolutionären Aufstand vom 17. Juni 1953, als Menschen – ebenfalls in der DDR – sich gegen die Unterdrückung auflehnten und für Freiheit und Demokratie kämpften.

    Rüdiger von Fritsch war viele Jahre im diplomatischen Dienst tätig.
    Rüdiger von Fritsch war viele Jahre im diplomatischen Dienst tätig. Foto: Gottfried Stoppel

    Ihre Familie wurde durch die Mauer geteilt, besonders ihr Vetter haderte mit dem Leben in der DDR. Wie erinnern Sie sich an die Stimmung damals, in den 70er Jahren?
    VON FRITSCH: Als 16-Jähriger habe ich unsere Verwandten in Thüringen und Sachsen besucht. Die Unterschiede zwischen einer sozialistischen Diktatur und der freiheitlichen Ordnung im Westen Deutschlands hätten sich mir besser nicht erschließen können. Bedrückend war es zu erfahren, wie die Menschen, um irgendwie existieren zu können, ein doppeltes Leben führen mussten: in nach außen geschuldeter Loyalität oder Stillschweigen und dem in der Familie geäußerten Unmut über die herrschenden Verhältnisse. Es war das Leben in der Lüge, das Thomas nicht länger aushalten wollte, als er sich 1973 zur Flucht entschloss.

    Gemeinsam mit ihrem Bruder halfen Sie Thomas und dessen Freunden bei der Flucht. Sie waren gerade einmal 20 Jahre alt – ein unglaubliches Risiko….
    VON FRITSCH: Gewiss half uns ein Stück weit auch die Unbeschwertheit der Jugend dabei, etwas absehbar Riskantes zu wagen. Je konkreter die Fluchtpläne wurden und je näher der Zeitpunkt der Flucht rückte, desto mehr bedrückte uns unser Vorhaben natürlich auch. Deswegen haben wir von Anbeginn zwei Grundsätze verfolgt: Die Flucht sollte so zuverlässig wie möglich klappen und zugleich so wenig riskant sein wie möglich.

    Sie waren junge Männer aus gutem Haus. Wie haben Sie es geschafft, einen Fluchtplan auszuarbeiten, Stempel zu fälschen, etc.?
    VON FRITSCH: Man könnte sagen: Not macht erfinderisch. Vieles war schwer abzuwägen, es gab ja weder das Internet, wo man hätte recherchieren können, noch Bücher: „Wie organisiere ich eine Flucht aus der DDR?“ Wir haben gefragt und erkundet, diskutiert und experimentiert. Schließlich hatten wir einen Plan, von dem wir glaubten, dass er gelingen könnte. Uns half, dass wir beide bereits einmal die spätere Fluchtroute bereist und somit eine Vorstellung davon hatten, wie es funktionieren könnte.

    Nicht alles ging glatt bei ihrem Einsatz als Fluchthelfer. Welcher Moment ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
    VON FRITSCH: Es gibt mehrere Momente, die mir als besonders beklemmend in Erinnerung sind: Um die drei Flüchtlinge zu treffen, machten ein Freund von mir und ich uns auf den Weg nach Ostberlin. In den Grenzkontrollen am Bahnhof Friedrichstraße wurden wir plötzlich getrennt, nach hinten geführt und separat verhört. Doch wie sich dann zeigen sollte, gab es keinen konkreten Verdacht gegen uns, man hatte uns rein zufällig ausgewählt. Und zum anderen waren natürlich die Grenzübertritte Momente, bei denen uns die Angst im Nacken saß: die Einreise nach Bulgarien mit drei gefälschten Pässen für die Flüchtlinge im Auto, deren Ausreise in die Türkei… Würde alles klappen, würden wir erwischt werden?

    Ausgerechnet die Stempel-Farbe sollte sich als der Teufel erweisen, der bekanntlich im Detail steckt. Erzählen Sie uns davon.
    VON FRITSCH: Unsere Idee war es, die drei Flüchtlinge in Bulgarien mit verfälschten westdeutschen Pässen auszustatten, die Ihnen die Ausreise in die Türkei ermöglichen sollten. Ins sozialistische Bulgarien konnten sowohl sie als auch wir reisen, um uns dort zu treffen. In den Pässen befanden sich – ebenfalls gefälschte – bulgarische Einreisestempel, die den Anschein erweckt, die drei seien tags zuvor nach Bulgarien eingereist. Monatelang hatten wir dazu alles ausgekundschaftet und vorbereitet, ich hatte die Pässe und die Stempel gefälscht. Doch als mein Bruder und ich am Nachmittag vor der geplanten Flucht nach Bulgarien einreisten, hatten die Grenzbehörden die Farbe der Stempel geändert – sie waren nun nicht länger blau-lila längs-, sondern grün-rot quergestreift. Alles umsonst, wir hatten drei falsche gefälschte Pässe im Auto.

    Waren Sie jemals an einem Punkt, an dem Sie das Projekt beenden wollten?
    VON FRITSCH: Nein, nie. Die Frage, ob wir helfen sollten, hat uns nie bewegt, nur die Frage, wie uns unser Vorhaben gelingen könnte. Dass wir helfen mussten, stand für uns außer Frage: Thomas war nicht allein Familie, unser Vetter, sondern er hatte mit seinem Vorhaben in jeder Hinsicht recht.

    Hat sich das enorme Risiko für ihren Vetter aus heutiger Sicht gelohnt?
    VON FRITSCH: Ich denke, ja. Er und seine beiden Freunde haben im Westen studieren können, was sie wollten, Berufe ihrer Wahl ergreifen können und ihren Lebensweg frei selbst bestimmen. 1989 waren sie in der guten Situation, mit einer „Ost-Biografie“ und einer „West-Ausbildung“ beim Aufbau der neuen Länder helfen zu können.

    Hat dieses Erlebnis, dieses Wagnis auch ihr eigenes Leben geprägt?
    VON FRITSCH: Mit entscheidend. Intensiv habe ich mich damals mit der Frage auseinandergesetzt, wieso es Diktaturen gelingen kann, sich an der Macht zu halten und wie wir uns als freie Gesellschaften behaupten können. Meine Berufsentscheidung mit geprägt hat dann auch eine Reise mit dem Rucksack rund um die Welt, die ich nach der Fluchthilfe-Aktion ein Jahr lang unternommen habe. Sie hat mir die tiefgehende Erfahrung geschenkt, dass man, gleich, wo man auf der Welt hinkommt, überall gute Menschen trifft, wenn man selbst offen ist. Und ich fand es faszinierend zu versuchen zu verstehen, warum Menschen in anderen Ländern uns so sehen, wie sie dies tun und zu versuchen, ihnen zu erklären, wie wir glauben, dass wir sind. Ermöglicht hat mir die Reise ein Stipendium der „zis-Stiftung für Studienreisen“, die auch heute noch jungen Menschen die Möglichkeit gibt, solche Erfahrungen zu machen. All die genannten Faktoren haben im Grunde meine Berufsentscheidung vorgezeichnet: den Weg in den diplomatischen Dienst.

    Zum Zeitpunkt des Mauerfalls waren Sie Diplomat in Polen. Hätten Sie gedacht, dass dieses System einmal durch das Volk selbst zum Einsturz gebracht werden würde?
    VON FRITSCH: Es war faszinierend, mitzuerleben, wie eine scheinbar allmächtige Diktatur plötzlich ins Wanken geriet. Wie auch in den anderen sozialistischen Ländern waren ihre Versprechungen immer unglaubwürdiger geworden, schließlich konnte sie den Menschen selbst elementare Dinge nicht mehr zur Verfügung stellen. Dann kommt es darauf an, dass es Menschen gibt, die um jenes Geheimnis der Freiheit wissen, die den Mut haben, sehr viel zu wagen, ohne zu wissen, ob sie am Ende das Glück der Geschichte auf ihrer Seite haben werden.

    Noch heute gilt es vielen als eine Art politisches Wunder, dass die Wende weitgehend unblutig verlaufen ist. Glauben Sie, dass das heute unter einem russischen Präsidenten Wladimir Putin auch noch möglich wäre?
    VON FRITSCH: Das diktatorische System Putins kann genau aus dem genannten Grund scheitern: Wenn es zu einem Kipppunkt kommt, an dem die Kosten des Krieges es ihm nicht länger erlauben, sich ständig die Zustimmung der Bevölkerung zu erkaufen. Wenn die Frauen und Mütter sagen: Schön und gut mit der Ukraine, aber wo sind unsere Väter, Brüder und Männer, warum wird die Gesundheitsversorgung immer schlechter, warum verfällt die Infrastruktur, wo bleibt die Schulspeisung. Genau diesen Punkt fürchtet Wladimir Putin – sonst wäre er nicht so ungeheuer repressiv. Er behauptet, bei den Präsidentschaftswahlen 90 Prozent Zustimmung erhalten zu haben und sperrt zugleich jeden ein, der nur den geringsten Widerspruch wagt. Ganz offensichtlich hat er Angst vor seinem eigenen Volk. Wann ein solcher Punkt kommt, lässt sich nicht sagen – aber weil dieser kommen kann, ist es so wichtig, nicht allein beständig die Ukraine zu unterstützen, sondern Wladimir Putin auch an die Grenzen seiner wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten zu führen.

    Zur Person

    Rüdiger von Fritsch, 70, ist Diplomat und Autor. Er war unter anderem von 2014 bis 2019 deutscher Botschafter in Moskau. Heute ist er Partner des geostrategischen Beratungsunternehmens Berlin Global Advisors und Mitglied des „Geopolitics advisory committee“ der Unternehmensberatung McKinsey. Sein Buch „Endspiel 1974. Eine Flucht in Deutschland“ ist im Aufbau-Verlag erschienen. 

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    1 Kommentar
    Wolfgang Schwank

    Warum Frau Hufnagel jetzt diese Uralt-Geschichte ausgräbt - ja das bleibt ihr Geheimnis. Diese heimelige Story ist schon ewig lange als Doku auf Fil gebannt und auf You tube längst zu sehen. Scheinbar braucht das Volk auf dem Weg zur Kriegstüchtigkeit neue Helden, wie beispielsweise diese einstigen Jugendlichen aus Ost und West. So ganz spontan und ohne logistische Unterstützung war das Ganze ja wohl damals nicht. Ein den Fritschens bekannter BNDler war ja wohl - als auf Hinweisgeber reduziert - in die Sache involviert. Interessant und bei dem zeitlichen Abstand auch durchaus belustigen finde ich es, dass ein Passfälscher zum Botschafter aufsteigen kann.

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