Herr von Fritsch, der Krieg in der Ukraine dauert inzwischen fast zwei Jahre. Hätten Sie im Dezember 2022 gedacht, dass wir heute, im Dezember 2023, noch immer über diesen Krieg sprechen?
RÜDIGER VON FRITSCH: Das Ziel des russischen Angriffskrieges war es ja, die Ukraine in einem schnellen Vorstoß zu unterwerfen. Im Ergebnis einer gerade grotesken Fehleinschätzung der Wirklichkeit – der russischen militärischen Fähigkeiten wie der ukrainischen, der Haltung der ukrainischen Bevölkerung wie der Bereitschaft des Westens, auf die Aggression zu reagieren – ist dies nicht gelungen. Seither war davon auszugehen, dass dieser Krieg sich lange hinziehen würde.
Es ist leichter, einen Krieg anzufangen, als ihn zu beenden – diese Binsenweisheit scheint sich im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wieder einmal zu bewahrheiten. Wie kann dieser Krieg zu Ende gehen?
FRITSCH: Die einfachste wie beste Lösung ist leider die zugleich am wenigsten wahrscheinliche: Wladimir Putin geht nach Hause. Die gefährlichste wäre es, um im Bild zu bleiben, wir gehen nach Hause. Sprich, wir unterstützen die Ukraine nicht mehr ausreichend, sich der Aggression erfolgreich zu erwehren. Dritte Variante: Eine der beiden Seiten siegt. Das zeichnet sich derzeit nicht unmittelbar ab. Vierte Möglichkeit: In Russland ändern sich die politischen Verhältnisse. Davor fürchtet Wladimir Putin sich, deshalb ist er so repressiv. Und schließlich jene Lösung, die immer zur Verfügung steht, wenn beide Seiten ehrlich verhandlungsbereit sind: die diplomatische. Also ein Waffenstillstand mit anschließenden Friedensverhandlungen. Doch dem verweigert Russland sich, außer zu den ultimativen Bedingungen seines Diktats. Das hat Wladimir Putin in seiner jährlichen Pressekonferenz vor wenigen Tagen noch einmal unmissverständlich klargemacht. Doch es gibt einen Punkt, an dem Wladimir Putin bereit wäre einzulenken: Wenn die immensen Mittel, die er in die Finanzierung seiner Aggression steckt – ein Drittel des russischen Staatshaushaltes! – ihm nicht mehr genug Geld lassen, sich ständig die Zustimmung der Bevölkerung zu erkaufen. Denn darauf ist er angewiesen. Daher zielen unsere Sanktionen auch auf den richtigen Punkt. Friedensverhandlungen lassen sich im Übrigen auch jetzt schon vorbereiten, indem man einen Rahmen schafft, in den sie eingebettet wären.
Was genau meinen Sie?
FRITSCH: Nun, die russische Führung behauptet ja, diesen Krieg führen zu müssen, weil die Sicherheit ihres Landes bedroht sei. Das ist zwar objektiv Unfug – anders als Russland hat sich die Nato stets genau an die Verabredungen jener „Nato-Russland-Grundakte“ gehalten, die wir einmal miteinander über Fragen der wechselseitigen Sicherheit geschlossen haben – aber hier lässt sich ja ansetzen. Wir sollten also auch jetzt schon über Bedrohungen der Sicherheit sprechen, über tatsächliche oder vermeintliche und wie in den Siebziger- und Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts darüber Verabredungen treffen. Wenn dann eine diplomatische Lösung des Krieges gegen die Ukraine ansteht, könnte Wladimir Putin sagen: Es ging mir ja immer nur um Sicherheit – und hier habe ich jetzt etwas erreicht. Stoff und Anlass für entsprechende Vereinbarungen gibt es im Bereich von Rüstungskontrolle, Abrüstung, Vertrauens- und sicherheitspolitischen Maßnahmen genug. So ließe sich die Sicherheit beider Seiten erhöhen, ohne irgendwelche falschen Kompromisse zu schließen oder Konzessionen zu machen, die Wladimir Putin – und andere! – nur ermutigen würden, dass die Methode funktioniert, Interessen mit Gewalt durchzusetzen.
Was ist, wenn Russland den Krieg gewinnt?
FRITSCH: Das wäre nicht allein das Ende einer freien, unabhängigen Ukraine. Es würde den Weg ebnen zu einer Fortsetzung der neoimperialistischen Gewaltpolitik Wladimir Putins. Denn er hat vor Beginn des Krieges ja unmissverständlich klargemacht, und es uns schriftlich gegeben, dass er insgesamt darauf zielt, die Welt wieder zurückzuführen in die gescheiterte Politik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, jener der Großmächte, denen die Kleinen sich unterzuordnen haben, mit Einflusssphären und Pufferzonen, die dann zu den Trampelpfaden der Armeen werden. Man muss ihm nur zuhören, dann weiß man, dass er im Letzten auf unsere Selbstbestimmung und Freiheit zielt, darauf, auch uns in die Abhängigkeit zu zwingen.
Wäre ein Ende des Krieges gleichbedeutend mit einem verlässlichen Frieden?
FRITSCH: Das hängt davon ab, zu welchen Bedingungen der Frieden geschlossen wird. Er muss von der Ukraine auf Augenhöhe, aus einer Position der Stärke heraus, verhandelt werden können. Wladimir Putins Vorstellung ist es, ein Stück Papier über den Tisch zu reichen und zu sagen: Hier auf der gepunkteten Linie habt ihr zu unterschreiben. Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Freiheit. Sonst ist der vermeintliche Friede ein dauerhafter Unfrieden.
Sie schreiben in Ihrem Buch: „Wir können uns Russland nicht einfach von der Landkarte wegwünschen, es wird bleiben, und wir werden mit ihm leben müssen.“ – Aber wie kann unsere künftige Beziehung zu Russland aussehen, mit den Erfahrungen der vergangenen Jahre?
FRITSCH: Es ist kurzsichtig zu glauben, es reiche, Russland maximal in die Knie zu zwingen. Wir müssen unseren Blick vom Schlachtfeld auch auf den Horizont richten und aus der Konfrontation, in die er uns geführt hat, geordnete Konfrontation machen. Wir müssen zu Verabredungen kommen, die so viel Sicherheit gewährleisten wie möglich und die Situation in Europa berechenbar machen. Dazu gehört auch, jenen Ländern des „Zwischeneuropas“, wie der Republik Moldau, Georgien oder eben gerade der Ukraine, Perspektiven der Sicherheit und der Einbindung nach Europa zu bieten.
Wird dieser Krieg auf mittlere Sicht unsere Weltordnung verändern – oder hat er es gar schon?
FRITSCH: Man kann sich Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine wie einen grellen Blitz vorstellen, der eine geopolitische Landschaft beleuchtet – die schon länger im Umbruch ist. Die wesentlichen Entwicklungslinien und Dynamiken werden fortdauern. Dazu gehört die Rivalität Chinas und der USA. Aber auch die Globalisierung. Sie ist zum Nutzen aller Beteiligten gewesen, des „Nordens“ wie aber auch der Länder des Südens. An der Struktur dieser Entwicklung werden also alle festhalten wollen, ändern wird sich ihre Natur. Zum Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen werden Überlegungen der Sicherheit hinzukommen. Zu den Faktoren der internationalen Ordnung, die Russlands Krieg sogar noch verstärkt hat, gehört auch der Zusammenhalt des Westens. Ob es dabei bleibt, liegt ganz in unserer Hand. Dazu gehört auch die künftige Ausrichtung der USA, und sollte diese sich ändern, an unserer Fähigkeit als Europäer, eine eigenständige, starke und geschlossene Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln.
Wie sehen Sie Wladimir Putins Position in Russland? Warum kommt die Bereitschaft der Menschen, ihn zu unterstützen, nicht ins Bröckeln?
FRITSCH: Die russische Soziologie hat, als sie noch frei war, sehr gut herausgearbeitet, dass die vermeintliche Unterstützung des Regimes im Kern eigentlich eine mangelnde Bereitschaft zum Widerspruch ist. „Wer gesenkten Hauptes geht, dem wird der Kopf nicht abgeschlagen“ ist eine in allen Diktaturen und gerade auch in Russland verbreitete Haltung. Aber wir wissen aus der Geschichte, wie schnell und dramatisch sich dies ändern kann, oft aus scheinbar nichtigem Anlass. Der schwarze Schwan, der unvorhergesehene Auslöser, der bis dahin unbekannte Anführer, das ist es, was die Diktatoren und somit auch Wladimir Putin fürchten. Zurzeit ist eine solche Entwicklung in Russland nicht absehbar, zu umfassend ist der Zugriff des Regimes auf das Land und seine Menschen, mit der großen Lüge – Propaganda – Repression und der Bestechung. Doch das kann eben sehr plötzlich anders aussehen.
Im Land scheint vom Krieg kaum etwas zu spüren zu sein. Sind selbst all die Sanktionen verpufft?
FRITSCH: Erstens: Was wäre die Alternative zu Sanktionen: selbst Gewalt anzuwenden oder gar nichts zu tun? Zweitens: Befasst man sich mit der wirtschaftlichen und finanziellen Situation Russlands genauer, so sieht man sehr wohl, welch einschneidende Wirkung die Sanktionen entfalten. Die Einnahmen aus dem Verkauf fossiler Energieträger, von Öl und Gas, machten vor dem Krieg bis zu 50 Prozent der Staatseinnahmen aus, derzeit legen sie bei etwa 28 Prozent. Die vom Finanzministerium vorgesehene Staatsverschuldung für 2023 war Mitte des Jahres überschritten. Russland ist von internationalen Finanzströmen abgeschnitten und vor allem vom technologischen Fortschritt. Wladimir Putin hat sein Land in eine Kriegswirtschaft geführt und es aus der Globalisierung herausgenommen. Ja, der Handel beispielsweise mit China ist enorm gewachsen. Aber dies ersetzt nicht die für Russland zuvor so wichtigen Handelsströme mit uns, westliche Investitionen in Russland, Technologietransfer und vieles mehr. Und es produziert für Moskau eine Situation, die man dort besonders fürchtet: immer größere Abhängigkeit von Peking.
Russland wählt im Frühjahr 2024. Präsident Putin hat seine erneute Kandidatur inzwischen verkündet. Ist unsere Hoffnung auf die Zeit „nach Putin“ nicht ohnehin Selbsttäuschung?
FRITSCH: Geschichte verläuft nie bloß linear, sie kennt weder bloße Zwangsläufigkeit noch Unausweichlichkeit. Ja, wir sind gut beraten, uns darauf einzustellen, dass wir es auf absehbare Zeit mit einem konfrontativ ausgerichteten Russland zu tun haben werden. Zugleich gilt aber auch ein Satz, den Michael Gorbatschow mir einmal gesagt hat: „Nur der Westen glaubt, Russland sei unfähig zur Demokratie.“ Warum sollte Russland nicht das gelingen, was beispielsweise Indien gelungen ist, nach Jahrhunderten feudalistischer und kolonialer Herrschaft?
Zur Person
Rüdiger von Fritsch gilt als einer der profiliertesten Russland-Experten. Der 69-jährige Diplomat war deutscher Botschafter in Moskau. Heute ist er Partner des geostrategischen Beratungsunternehmens Berlin Global Advisors und Mitglied des „Geopolitics advisory committee“ der Unternehmensberatung McKinsey. Zuletzt erschien von ihm im Aufbau-Verlag das Buch "Welt im Umbruch – was kommt nach dem Krieg?".