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Interview: "Es gibt keine grundsätzliche Veränderung, wie in der Gesellschaft über Flüchtlinge gedacht wird"

Interview

"Es gibt keine grundsätzliche Veränderung, wie in der Gesellschaft über Flüchtlinge gedacht wird"

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    Viele Menschen aus der Ukraine flüchten nach Deutschland.
    Viele Menschen aus der Ukraine flüchten nach Deutschland. Foto: Frank Hammerschmidt, dpa (Archivbild)

    Frau Nowicka, Sie forschen zu Migration und Integration. Wie erklären Sie sich die große Solidarität gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine?
    MAGDALENA NOWICKA: Ich glaube, das muss man in dem geopolitischen Kontext sehen. Präsident Selenskyi sagt zum Beispiel, dass die Ukrainer für den Frieden in ganz Europa kämpfen. Das hat er natürlich sehr pathetisch ausgedrückt. Aber die Ukraine ist nicht so weit weg. Es geht dabei auch um die Nähe zur Nato, die Außengrenze der EU – und die Tatsache, dass dieser Krieg 20 Kilometer von dieser Grenze entfernt tobt. Das heißt auch: Der Krieg ist so nahe wie seit dem Jugoslawien-Krieg nicht mehr.

    Spielt auch das Geschlecht der Flüchtenden eine Rolle? 2015 waren es viele junge Männer, nun kommen eher Frauen und Kinder ins Land.
    NOWICKA: Es ist gut nachgewiesen, dass junge Männer als gefährlicher wahrgenommen werden, etwa wenn sie in Gruppen in der Öffentlichkeit unterwegs sind. Das trifft aber unabhängig von anderen Merkmalen wie etwa Religionszugehörigkeit zu. Kinder werden auf jeden Fall eher als Opfer wahrgenommen – was sie ja auch sind. Das ist ein psychologischer Mechanismus, den auch die Medien in der Berichtserstattung öfters nutzen, den wir nicht verleugnen können. Das heißt aber nicht, dass diese Wahrnehmung einen großen Einfluss auf die Integration der Geflüchteten hat. Hier gibt es viele andere Strukturen, die eine Rolle spielen.

    Wie wichtig ist die Religion, wenn es um Integration geht?
    NOWICKA: Das wird sich noch zeigen. Die größte Kluft gibt es mittlerweile zwischen den Gläubigen und den nicht mehr so Gläubigen, unabhängig von der Konfession. Allerdings glaube ich auch, dass dieser Aspekt in vielen Debatten oft überbetont wird – entweder wird die Gemeinsamkeit unter Christen oder die Differenz zwischen Christen und Muslimen betont. Die Realität ist wie immer komplizierter. Die konstruierte Nähe aufgrund der Geschichte oder der Religion sollte nicht die Integrationsstrategie beeinflussen.

    Wer 2015 nach Deutschland kam, musste ein Asylverfahren durchlaufen. Flüchtende aus der Ukraine dagegen nicht. Werden sie anders behandelt?
    NOWICKA: Wir haben in diesem Fall eine andere Ausgangssituation. Die Ukrainer haben keine Visumspflicht, anders als Afghanen oder Syrer. Das heißt sie können sich sowieso für 90 beziehungsweise 180 Tage in der EU aufhalten. Man hatte also keine Mittel, um die Menschen an der Grenze zu stoppen, sondern musste einen anderen Mechanismus finden. Das war natürlich eine einmalige Entscheidung, so vorzugehen. Das ist Neuland für die EU und Deutschland und viele Detailfragen sind noch offen.

    Noch schottet sich die EU nicht ab, sondern nimmt weiter Ukrainerinnen und Ukrainer auf. Wird sich das ändern?
    NOWICKA: Ja, noch. Es gibt keine grundsätzliche Veränderung, wie in der Politik oder Gesellschaft über Flüchtlinge gedacht wird. Die Flüchtlingsströme aus anderen Ländern hören auch nicht auf, weil jetzt mehr Ukrainer ankommen, und die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze hat sich auch nicht verändert. Die Ukrainer sind nun da und damit müssen wir jetzt irgendwie umgehen unter Berücksichtigung der besonderen rechtlichen Lage. Wir wissen aber nicht, was es bedeutet, wenn die Menschen aus der Ukraine die nächsten Monate oder Jahre bleiben. Dann fängt irgendwann die Kapazitätsdebatte an.

    Was meinen Sie damit?
    NOWICKA: Es geht darum, welche Ressourcen nötig sind, um den Menschen langfristig zu helfen und ihnen eine Perspektive zu bieten. Sie können ja nicht ewig in privaten Unterkünften bleiben und wollen auch unabhängig werden. Haben wir diesen zusätzlichen Wohnraum? Gibt es Arbeitsplätze für die Menschen? Was bedeutet die Aufnahme von geflüchteten Kindern für die Schulen? Diese Debatten werden noch kommen. In Deutschland ist die Situation noch nicht so drängend. Es gibt funktionierende Strukturen und die Gesellschaft hat etwas aus 2015 gelernt. In Polen ist das anders. Dort sind bislang zwei Millionen Menschen angekommen. Die leben alle bei Privatpersonen. Die Hilfe wird von der Zivilgesellschaft organisiert und finanziert.

    Spielt eine kulturelle Verbundenheit bei der Aufnahme von Flüchtlingen eine Rolle? Polen und die Ukraine haben zum Beispiel eine gemeinsame Geschichte.
    NOWICKA: Die gemeinsame Geschichte von Polen und der Ukraine ist komplex und auf beiden Seiten gibt es starke nationalistische Tendenzen. Man muss auch bedenken, dass man sich auch seiner eigenen Familie verbunden fühlt. Aber wenn die Familie zu Besuch kommt und zwei Jahre bleibt, ist es irgendwann auch nicht mehr lustig. Es ist eine Frage der Ressourcen. In Polen hat eine unglaubliche Mobilmachung der Zivilgesellschaft stattgefunden. Dabei haben viele Nichtregierungsorganisationen, die sich um Migranten kümmern, nur wenig finanzielle Mittel. Das muss man bedenken. Trotz aller Bereitschaft und Unterstützung ist die Situation eine enorme strukturelle, psychische und finanzielle Belastung für die Helfer. Deswegen hängt vieles davon ab, wie der Staat die Zivilgesellschaft und die Geflüchteten unterstützt.

    Zur Person

    Magdalena Nowicka leitet die Abteilung Integration des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung in Berlin.

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