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Interview: Entwicklungshelferin: "Die Taliban wollen die Identität der Frauen eliminieren"

Interview

Entwicklungshelferin: "Die Taliban wollen die Identität der Frauen eliminieren"

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    Schulmädchen spielen auf dem Gelände einer ländlichen Schule in Bamiyan. Nicht überall in Afghanistan ist Mädchen der Schulbesuch verboten.
    Schulmädchen spielen auf dem Gelände einer ländlichen Schule in Bamiyan. Nicht überall in Afghanistan ist Mädchen der Schulbesuch verboten. Foto: Ebrahim Noroozi, dpa

    Frau Gottschalk, Sie kommen gerade aus Afghanistan zurück. Wie ist die humanitäre Lage im Land?
    ELKE GOTTSCHALK: Laut den Daten des Welternährungsprogramms und anderer UN-Organisationen können sich bis zu 90 Prozent der Bevölkerung nicht mehr gesund ernähren, zwei Drittel der Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Afghanistan gehört derzeit zu den sechs schlimmsten Hunger-Hotspots der Welt. 

    Was hat zu dieser katastrophalen Lage geführt?
    GOTTSCHALK: Es kommt ganz viel zusammen. Im Land herrscht bereits seit Jahren eine Dürre. Zur Dürre kamen Corona und dann – vor knapp zwei Jahren – die Machtübernahme der Taliban. Allein im Jahr 2021 ist die Wirtschaft deshalb um rund 30 Prozent eingebrochen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Lage weiter verschärft. Leider gehen die meisten Experten davon aus, dass die humanitäre Situation sich in den nächsten Monaten weiter verschlechtern wird.

    Elke Gottschalk ist Regionaldirektorin der Welthungerhilfe für Asien und damit zuständig für Afghanistan.  Die 60-Jährige ist studierte Agrarwissenschaftlerin.
    Elke Gottschalk ist Regionaldirektorin der Welthungerhilfe für Asien und damit zuständig für Afghanistan.  Die 60-Jährige ist studierte Agrarwissenschaftlerin. Foto: Welthungerhilfe

    Warum?
    GOTTSCHALK: Vor der Machtergreifung der Taliban wurden rund 75 Prozent des afghanischen Staatshaushaltes von der internationalen Gebergemeinschaft finanziert. Diese Mittel standen von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Verfügung. Weil die Taliban die Menschen-, vor allem die Frauenrechte extrem einschränken, ziehen sich immer mehr Geber zurück. 

    Hat die Welthungerhilfe nach der Machtübernahme der Taliban darüber nachgedacht, sich aus Afghanistan zurückzuziehen?
    GOTTSCHALK: Wir arbeiten seit Anfang der 90er Jahre mit einem eigenen Büro in Afghanistan. Auch unter der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 waren wir vor Ort. Aber als die Taliban vor zwei Jahren erneut die Macht übernahmen, haben wir uns natürlich gefragt: Was können wir unter den neuen Rahmenbedingungen noch machen? Bleiben oder zurückziehen – beide Optionen lagen auf dem Tisch. Aber uns war schnell klar: Die afghanische Bevölkerung braucht unsere Unterstützung jetzt dringender denn je. Wir können jetzt nicht sagen: Das ist uns zu kompliziert, wir ziehen uns zurück. Darum haben wir uns schnell für „Stay and deliver“ entschieden: Bleiben und liefern.

    Vertrocknete Fische liegen am Ufer des ausgetrockneten Hamun-Sees.  Das Wasser in einigen afghanischen Provinzen ist zeitweise so knapp, dass es mit Tankwagen in die Dörfer gebracht wird.
    Vertrocknete Fische liegen am Ufer des ausgetrockneten Hamun-Sees. Das Wasser in einigen afghanischen Provinzen ist zeitweise so knapp, dass es mit Tankwagen in die Dörfer gebracht wird. Foto: Mohammad Dehdast, dpa

    Wie helfen Sie jetzt den Menschen in Afghanistan?
    GOTTSCHALK: Zunächst haben wir hauptsächlich Nahrungsmittel verteilt, vor Einbruch des Winters auch Heizmittel und warme Kleidung. Wir haben allerdings bald auf Bargeldverteilungen umgestellt. Das ist einfacher und effizienter und stützt die heimische Wirtschaft.

    Wie leiden Frauen und Mädchen unter den Taliban?
    GOTTSCHALK: Für die Frauen und Mädchen hat die Machtergreifung der Taliban katastrophale Folgen. Unter den Taliban gibt es besonders radikale Kräfte, die Frauen komplett aus dem öffentlichen Leben verbannen und in den häuslichen Raum zurückdrängen wollen. Die Taliban wollen so die Identität der Frauen eliminieren. Darunter leiden die Frauen natürlich extrem, da ihnen so Lebensentwürfe und Zukunftsperspektiven genommen werden.

    Sie beschäftigen auch Frauen. Die Taliban haben das verboten. Bringen Sie Ihre Mitarbeiterinnen nicht in Gefahr?
    GOTTSCHALK: Das ist tatsächlich ein Dilemma. Viele unserer Mitarbeiterinnen sind die alleinigen Ernährerinnen ihrer oft großen Familien. Sie sind sich des Risikos bewusst, aber sie wollen und müssen arbeiten. Wir haben sie deshalb mit Solarpaneelen und Datenpaketen ausgestattet, sodass sie mit ihren Laptops von zu Hause arbeiten können. 

    Die Taliban setzten das Arbeitsverbot für Frauen also nicht rigoros durch?
    GOTTSCHALK: Nein. Sie wissen, dass wir Frauen brauchen, um besonders von Hunger betroffene Frauen und Familien zu erreichen. Es sind schwierige Aushandlungsprozesse, und wir bekommen von den Taliban nie etwas Schriftliches und Langfristiges, aber durchaus Zusagen, dass unsere Mitarbeiterinnen an einen bestimmten Tag an einem bestimmten Ort an einer Verteilung teilnehmen können. 

    Man kann also mit den Taliban verhandeln?
    GOTTSCHALK: Ja, denn die Taliban gibt es nicht. Die Dekrete wie das Verbot, dass Frauen nicht bei ausländischen Organisationen arbeiten dürfen, kommen von der politisch-religiösen Führung und dem Emir in Kandahar. Die Hauptstadt der Taliban ist 500 Kilometer von Kabul entfernt. Theoretisch sollen die Ministerien in

    Unter Außenministerin Annalena Baerbock und Entwicklungsministerin Svenja Schulze möchte Deutschland eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik betreiben. Profitieren Frauen und Mädchen in Afghanistan davon?
    GOTTSCHALK: Leider nicht. Im Gegenteil! Mit der radikalen Einschränkung der Frauen- und Mädchenrechte geben die Taliban Deutschland und anderen Gebern ein Argument, die begrenzten Mittel eher in Ländern einzusetzen, in denen Frauen mehr Rechte haben. Da Frauen und Mädchen in Afghanistan zu den vulnerabelsten Gruppen gehören, leiden sie am stärksten unter den Mittelkürzungen. So erreicht man also genau das Gegenteil von dem, was man eigentlich erreichen möchte. Darum sollte humanitäre Hilfe sich nach der Bedürftigkeit, nicht nach politischen Prinzipien richten.

    Aber dazu muss man mit der Regierung zusammenarbeiten. Wollen Sie mit den Taliban kooperieren?
    GOTTSCHALK: Mir geht es um die Menschen in Afghanistan, und ich plädiere auch dafür, realistisch zu sein. Die Taliban sind derzeit an der Macht. Mit diesem Faktor müssen wir umgehen. Deshalb halte ich es für sehr wichtig, Gesprächskanäle offenzuhalten und Verhandlungen und Dialog zwischen der Zivilgesellschaft, den Taliban und der Uno zu intensivieren. Für die Entwicklung des Landes wäre es auch sehr wichtig, einen Friedensprozess aufzusetzen und sich zu überlegen, wie man 150.000 Kämpfer demobilisieren und in die Gesellschaft integrieren kann. 

    Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Hatten Sie Angst, als Sie jetzt in Kabul waren? 
    GOTTSCHALK: Ich hatte wesentlich weniger Angst als bei meinen vorherigen Reisen nach Afghanistan. In den 90er Jahren fühlte sich Kabul wie eine Todeszone an. Aber dieses Mal hatte ich überhaupt kein Bedrohungsgefühl. Man merkt sofort: Das Land ist nicht mehr im Krieg, das Straßenbild ist nicht mehr so militärisch geprägt. Es gibt viel weniger Anschläge. Bislang war es für unsere Mitarbeitenden die größte Gefahr, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, wenn mal wieder eine Bombe hochging. Die Taliban haben dem Land eine Art von „Frieden“ gebracht. Das ist eine Errungenschaft. Auch wenn es nur ein „negativer Friede“, also die Abwesenheit von Gewalt ist.

    Zur Person

    Elke Gottschalk ist Regionaldirektorin der Welthungerhilfe für Asien und damit zuständig für Afghanistan. Die 60-Jährige ist studierte Agrarwissenschaftlerin.

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