Herr Reuter, Sie haben die Erfahrung von 94 Lebensjahren. Weltkrieg, Klimawandel, Inflation, Energiekrise, die Krise der Demokratie – befinden wir uns an einer Zeitenwende?
Edzard Reuter: Wir befinden uns mitten in einem fundamentalen Wandel, der ausnahmslos auf alle von uns ausstrahlt. Ich würde diesen Zustand als tief greifende Verunsicherung bezeichnen: Innerlich fühlen wir uns nicht mehr auf so (vermeintlich!) sicheren Fundamenten wie früher. In Deutschland ging es seit Ende des Zweiten Weltkriegs immer bergauf. Wir hatten nahezu Vollbeschäftigung, die Löhne stiegen, wir konnten jedes Jahr in den Urlaub fahren, konnten ohne Sorge eine Familie gründen. Das alles ist uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Mit anderen Worten: Am eigenen Leib haben wir keinerlei dramatische Umbrüche erlebt.
Immerhin gab und gibt es aber doch einen großen technischen Wandel, die Digitalisierung …
Reuter: Ja, genau. Und natürlich gab es immer mal wieder auch revolutionäre Ansätze innerhalb der Gesellschaft, etwa als die jüngere Generation nach dem Zweiten Weltkrieg die Haltung der Älteren infrage stellte. Aber das hat nie alle Menschen in Schrecken versetzt. Wir haben uns mit einer großen Spendenbereitschaft befreit von der Notwendigkeit, an dem teilzuhaben, was in der Welt um uns herum stattfand: Kriege, Not, Mördereien.
Große Krisen gab es eigentlich nur in den Nachrichten.
Reuter: Diese Idylle ist vor zehn, 15 Jahren in Bedrängnis geraten. Alles ändert sich. Und das bestärkt dieses Gefühl, dass wir uns in einer echten Zeitenwende befinden. Das wird dazu führen, dass die Menschen zunehmend ihre Ellbogen ausfahren, um sich durchzusetzen – und zwar ohne Rücksicht auf andere. Wir werden das quer durch alle Gesellschaftsschichten erleben. Das Wir-Gefühl, das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, geht immer mehr verloren.
Bräuchte man nicht gerade in Krisenzeiten ein Gefühl der Solidarität?
Reuter: Ja, unbedingt sogar! Doch die Zustandsbeschreibung lautet: So rapide wie sich die Umstände ändern, so rapide ändert sich auch das Verhalten der Menschen. Das machen sich die Staatsmänner zunutze, die im Augenblick scheinbar so erfolgreich sind: Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan. Sie wissen, dass die Menschen eine Gemeinschaft brauchen, der sie sich zugehörig fühlen. Erdogan beschwört den osmanischen Nationalismus, Putin begründet seinen Krieg gegen die Ukraine damit, dass es weiter ein großes russisches Reich gibt.
Autokraten können künstliche Feindbilder nach außen schaffen, was aber kann die demokratische Politik machen?
Reuter: Das ist eine Wunde, in die Sie gerade den Finger legen. Ich denke, in unseren demokratischen Systemen muss die Politik wieder den Mut zur Führung finden. Sie muss klipp und klar sagen, wofür sie steht und durch ihre Taten davon überzeugen. Als es uns zu gut ging, ist uns das leider verloren gegangen. Die Politik hat sich angewöhnt, ihre eigenen Vorteile zu suchen und folglich ihre Entscheidungen von Tag zu Tag zu treffen. Unsere Werte wurden dabei für selbstverständlich unterstellt, weil man nicht mehr um sie streiten und kämpfen musste. Doch Politik braucht eine klare Meinung, eine Haltung. Als Konsequenz ähneln sich die großen Parteien immer mehr, sind fast austauschbar geworden. Die demokratische Politik hat sich damit auf dünnes Eis begeben. Schauen Sie sich in Europa um: Die Gefahr, dass populistische Schreihälse an die Macht kommen, ist sehr groß, egal ob in Frankreich oder Italien. Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Wollen wir Europäer sein oder nur noch auf uns selbst schauen?
Hat sich nicht auch die Gesellschaft zu sehr daran gewöhnt, dass die Politik die Probleme für sie löst?
Reuter: Schauen Sie sich den Krieg in der Ukraine an: Als der begann, saßen wir alle entsetzt vor den Nachrichten und haben uns gefragt, wie ein Mensch so etwas machen kann. Inzwischen fangen wir langsam an, uns daran zu gewöhnen. Sind wir nicht auch in der Corona-Pandemie längst so weit, zu meinen, dass alles schon irgendwie gut gehen wird – obwohl wir ahnen, dass im kommenden Herbst die nächste Welle kommt? Eine verbreitete Grundannahme scheint dabei, dass irgendwelche anderen, die Politik oder die Wissenschaft, schon irgendetwas tun werden. Womöglich haben wir in Deutschland völlig das Gefühl dafür verloren, dass es uns auch wirtschaftlich wieder schlechter gehen könnte.
Was macht das mit uns, wenn dieses Wohlstandsversprechen nicht mehr gilt?
Reuter: Hier setzt genau das ein, was ich meine: Die Pflicht der demokratischen Politik, Probleme klar und deutlich zu benennen und zu erklären, warum sie nicht mit einem Fingerschnippen weggehen werden. Es geht für unsere Gesellschaft um grundlegende Einschnitte. Früher haben sich einmal auch die Kirchen an der Lösung solcher Herausforderungen beteiligt.
Inzwischen sind in Deutschland die Kirchenmitglieder in der Minderheit …
Reuter: Das ist kein Wunder. Die Kirchen haben sich selbst demontiert. Früher waren sie ein Fundament unserer Gesellschaft. Es klingt vielleicht so, als ob ich nach einem Heiland rufe – das will ich natürlich nicht. Ich plädiere vielmehr dafür, dass sich die demokratische Politik ihrer eigenen Verantwortung bewusst bleibt. Angela Merkel war zweifellos eine herausragende Politikerin – doch in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft hat sie sich beständig in diesem Sinn vor Führung gedrückt.
Was ist mit Bundeskanzler Olaf Scholz, auch von ihm hört man in diesen schwierigen Zeiten wenig?
Reuter: Aus persönlichen Begegnungen bin ich davon überzeugt, dass Herr Scholz weiß, dass es Führungsstärke braucht. Leider sieht man im Augenblick davon allzu wenig. Seine Koalition gerät in schwieriges Fahrwasser, es wird sich bald zeigen, ob er dem gewachsen ist. Leider bin ich nicht mehr ganz so optimistisch.
Sie schreiben in ihrem Buch: „Eine heile Welt mit Freiheit und Wohlstand muss mit der Bereitschaft erkauft werden, Entbehrungen und Opfer in Kauf zu nehmen.“ Hatten wir das vergessen?
Reuter: Ich fürchte, das haben wir vergessen. Natürlich gab es viele einzelne Menschen, die von Not betroffen waren. Aber als Gemeinschaft haben wir das vergessen. Wir haben zum Beispiel auch vergessen, welche Anstrengungen es etwa nach dem Krieg gegeben hat, die Millionen von Flüchtlingen aufzufangen. Auch damals waren gewaltige Opfer notwendig. In ganz Europa stehen wir in absehbarer Zukunft vor nicht minder gewaltigen Problemen. Es gibt genügend Akteure, die sich die Vorteile Europas einverleiben und gleichzeitig die Nachteile vermeiden wollen. Dagegen müssen wir uns gemeinsam wehren, wenn wir unsere Freiheit bewahren wollen.
Die Krisen liegen auch an internationalen Verschiebungen. Innerhalb weniger Jahre sind dem Westen vermeintliche Partner weggebrochen: Türkei, China, Russland … Waren wir zu naiv?
Reuter: Eindeutig ja. Wahrscheinlich haben wir zu wenig auf die gehört, die politische Führungsverantwortung hatten und dieses Problem längst gesehen haben. Dazu gehört der ehemalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger, dazu gehörte der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt. Demokratische Führung heißt, den Mut zu haben, auch bei Wahlen zu sagen, dass wir Opfer bringen müssen. Man muss auch den Mut haben, mal eine Wahl zu verlieren. Politische Führung in einer Krise ist ein verdammt schwieriges Geschäft, aber es kann gelingen.
Unterschätzt die Politik die Bevölkerung in diesem Punkt vielleicht sogar? Der Grüne Robert Habeck gilt als beliebtester Minister, obwohl er aus seinen Sorgen keinen Hehl macht.
Reuter: Robert Habeck hat es geschafft, eine neue Sprache in die Politik zu bringen: Er spricht Probleme an, handelt aber auch gleichzeitig.
Sind wir angesichts von Krisen überhaupt in der Lage unser eigenes Verhalten zu ändern?
Reuter: Ja, das kann man – es ist aber verdammt schwer. Und es bedarf der Gewissheit, dass es sich lohnt. Erfolg zieht immer Erfolg nach.
Das ist nicht immer so einfach. In der Klimakrise etwa werden erst nachfolgende Generationen davon profitieren, wenn wir heute unser Verhalten ändern.
Reuter: In der Klimakrise ist ein Wunder geschehen. Ich habe zu Beginn auch zu denen gehört, die gezweifelt haben, als junge Mädchen große Politik machen wollten. Aber es ist nicht zu verkennen, dass Greta Thunberg und „Fridays for Future“ etwas in Bewegung gebracht haben. Das zeigt doch: Es geht. Der Anstoß der jüngeren Generation, die uns sagt, dass wir neue Wege gehen müssen, hat etwas in Bewegung gebracht.
Was macht Ihnen Hoffnung in diesen Zeiten?
Reuter: Hoffnung macht mir die Einsatzbereitschaft jüngerer Menschen. Ich bin überzeugt: Es gibt jüngere Menschen, die fest entschlossen sind, Europa voranzubringen. Und ich vertraue darauf, dass ihnen dies gelingen wird. Unter welchen Umständen das geschehen wird, wage ich nicht zu prophezeien. Ich bin der Letzte, der blauäugig sagt, es wird schon alles gut werden – im Gegenteil. Aber wir haben so gute Voraussetzung, wir haben Bildung, wir haben unsere Erfahrung aus der Nachkriegszeit. Barack Obamas „Yes we can“ war ein großartiger Ansatz. Er muss natürlich mit konkretem Handeln unterfüttert werden.
Zur Person: Edzard Reuter, 94, ist der Sohn des früheren Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter und war von 1987 bis 1995 Daimler-Benz-Vorstandsvorsitzender. Er ist Ehrenbürger Berlins und wirkt in vielen kulturellen und wissenschaftlichen Förderkreisen und Stiftungen mit. Jüngst ist sein Buch „Der Preis der Freiheit. Was Europa jetzt tun muss. Ein Weckruf“ im Hirzel Verlag erschienen.
In einer Serie wollen wir in den kommenden Wochen die Frage stellen: Wie schaffen wir das? Wie können wir die multiplen Krisen, die die Welt in Atem halten, meistern? Hier lesen Sie Teil 2.