Frau Amirpur, in einem Gespräch mit unserer Redaktion im März 2022 sagten Sie, dass die Unzufriedenheit im Iran so groß sei, dass ein Aufstand jederzeit beginnen könne. Sechs Monate später war es so weit. Haben die Herrscher keine Antennen mehr für die Stimmung im Lande?
Katajun Amirpur: Das Regime gibt ja sehr viele Umfragen in Auftrag. Es weiß also über die Unzufriedenheit in der Gesellschaft durchaus Bescheid. Die Machthaber wissen seit Jahren, dass 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung sagen, es darf keinen Kopftuchzwang geben. Sie verschließen also vor diesen Problemen nicht wirklich die Augen, sondern sagen, wir werden Proteste im Zweifel schon niederknüppeln, was sie dann auch getan haben.
Besonders intelligent ist das nicht.
Amirpur: Na ja, es kommt darauf an, aus welcher Logik heraus man das betrachtet. Also, rund 90 Prozent der Bevölkerung sind unzufrieden. Sie wollen ein anderes System. Zehn Prozent wollen, dass es so bleibt – sie werden von dem System alimentiert, bestens ausgerüstet, auch militärisch. Diese zehn Prozent sind in der Lage, 90 Prozent zu unterdrücken. Dass die Bevölkerung etwas anderes will, wissen sie zwar, es interessiert sie aber nicht. Es geht ihnen nur um den eigenen Machterhalt. Und um den zu sichern, müssen sie mit möglichst großer Brutalität gegen die freiheitliche Bewegung vorgehen. Der Aufstand, der einen Höhepunkt im September 2022 hatte, gehört ja zu einer Kette von solchen Eruptionen, die es bereits 2017/18 oder 2019 gab. Und auch schon vorher: 1999, 2009 …
Aktuell eskaliert wieder der Kampf um das Kopftuch. Kann es dem Regime und seinen Schergen gelingen, die Frauen wieder unter das Kopftuch zu zwingen?
Amirpur: Sie geben sich die allergrößte Mühe. Es gibt eine Verschärfung der Gesetze, es gibt mehr Überwachungstechnologie – übrigens mit sehr großer Hilfe des deutschen Konzerns Bosch. Das Unternehmen beruft sich darauf, dass man die Technik schon vor Jahren geliefert habe – eine Ausrede, nicht wirklich überzeugend. Denn 2017 hat das Regime die Bevölkerung auch schon niedergeknüppelt und kontrolliert, mithilfe von Bosch-Technologie. Wir sehen dennoch sehr viel zivilen Widerstand auf den Straßen. Darüber gibt unabhängige Berichte. Sogar in entlegeneren Teilen des Landes gehen immer mehr Frauen ohne Kopftuch auf die Straße.
Wie werden Verstöße gegen das Kopftuchverbot bestraft?
Amirpur: Wenn eine Frau zweimal ohne Kopftuch beim Autofahren erwischt wird, wird das Auto stillgelegt. Manche Strafen sind völlig absurd: Eine angehende Ärztin erhielt Berufsverbot, sie soll nun Leichen waschen. Das Kopftuch ist natürlich das Symbol schlechthin. Wenn es nicht mehr da ist, dann ist von der „islamischen“ Republik nichts mehr übrig.
Die Kernthese Ihres Buches „Iran ohne Islam“ ist, dass die iranische Bevölkerung heute zu den säkularisiertesten des Nahen und Mittleren Ostens zählt.
Amirpur: Dieser Titel mag auf den ersten Blick verwundern. Doch man kann seit Jahrzehnten eine Abkehr vom Islam beobachten. Denn den Menschen wird im Namen des Islams alles verboten. Kein Haar darf aus dem Kopftuch herauslugen, Frauen werden entrechtet. Daher sagen sich immer mehr Menschen: Wenn das der Islam ist, dann lieber kein Islam. Diese Entwicklung beobachte ich seit 1991, als ich das erste Mal im Erwachsenenalter im Iran war. Die Theokratie hat den Menschen im Iran den Islam ausgetrieben. Nur noch 30 Prozent bezeichnen sich als Muslime oder Musliminnen. Viele wenden sich der vorislamischen Religion – dem Zoroastrismus – zu. Diese Religion ist im Iran entstanden und im Westen durch Nietzsche bekannt: Also sprach Zarathustra.
Wann hat dieser Prozess begonnen?
Amirpur: Das war ein schleichender Prozess. Für viele Frauen begann er schon wenige Wochen nach der Revolution von 1979, als sie merkten, dass die Islamisten dabei sind, die Oberhoheit zu gewinnen und sie unters Kopftuch zu zwingen. Wir sprechen heute meist von der "islamischen" Revolution, aber das stimmt eigentlich nicht. Denn diese Revolution wurde im Namen der Freiheit begonnen. Anfangs waren viele linke Gruppen die treibende Kraft. Dann aber wurde die Revolution von Ayatollah Khomeini und den Islamisten gekapert.
Hätte es die Entfremdung großer Teile der Bevölkerung von der Religion auch gegeben, wenn sie nicht von Fanatikern mit Gewalt und Restriktionen aufgezwungen worden wäre?
Amirpur: Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass es diesen Prozess nicht gegeben hätte. Den Menschen wird nicht nur die Religion aufgezwungen, sondern tatsächlich das Leben zur Hölle gemacht im Namen der Religion. Ein berühmter iranischer Philosoph hat mal gesagt, dass der Islam so tief in der Bevölkerung verwurzelt war, dass nur eine „islamische“ Republik diese Wurzeln herausreißen konnte.
Welchen Anteil hatten die theokratischen Herrscher an dieser Entfremdung?
Amirpur: Einen sehr großen. Zum einen durch den Zwang. Aber auch dadurch: Der Staat hat sich schrittweise von allen islamischen Vorgaben befreit und emanzipiert. Khomeini selber hat 1989 ein wegweisendes Rechtsgutachten herausgegeben. Danach hat alles Vorrang, was dem System und dem Erhalt des Staates nutzt. Dann dürfen sogar Moscheen zertrümmert oder das Fasten ausgesetzt werden. Mit diesem Gutachten können quasi alle islamischen Vorschriften außer Kraft gesetzt werden, wenn sie gerade nicht in die Machtpolitik passen. Es wird also sehr selektiv angewendet, lässt sich aber auf alle Bereiche des Lebens übertragen. Doch wenn es zum Beispiel um Frauenrechte geht, dann heißt es, das würde der islamischen Lehre zuwiderlaufen. Das Ganze ist also völlig willkürlich.
Gleichzeitig zeichnen Sie in Ihrem Buch nach, dass auch Teile der religiösen Elite für eine Trennung von Religion und Staat plädierten. Haben diese Leute noch Einfluss?
Amirpur: Also, von denen, die die Macht in der Hand halten, werden sie nicht gehört. Sie werden seit Jahrzehnten systematisch umgebracht, ausgegrenzt oder aus dem Land gedrängt. Diese moderaten Kräfte waren vor allem in den 90er-Jahren stark. Es gab auch immer wieder Erfolge dieser Gruppe bei Wahlen. Die Menschen hofften auf ein bisschen mehr Freiheiten, ein bisschen mehr Demokratie. Doch diese Hoffnung gibt es nicht mehr. Jetzt kann nur noch ein kompletter Umsturz etwas ändern.
Wie wird der Westen, wie werden die USA in der Bevölkerung gesehen?
Amirpur: Die Iranerinnen und Iraner wissen, dass der Westen gar keine Hebel hat, einzugreifen. Die Leute wollen Freiheit und Demokratie. Ihnen geht es nicht um vermeintlich westliche Werte, es geht ihnen um ein allgemeines Menschenrecht.
Sie schreiben, dass man Proteste mit Polizeigewalt niederschlagen kann, die Ideen, die dahinterstecken aber nicht. Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass die revolutionäre Bewegung Erfolg hat?
Amirpur: Ich bin mir sicher, dass die Bewegung langfristig Erfolg haben wird. Wie lange das dauert, darüber wage ich keine Prognose. Aber wir Iraner glauben im Sinne des Zoroastrismus traditionell daran, dass am Ende das Licht über die Finsternis siegt.
Katajun Amirpur wurde 1971 in Köln geboren. Die deutsch-iranische Professorin für Islamwissenschaften lehrt an der Universität Köln. Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Iran ohne Islam“, erschienen im Verlag C.H. Beck, 240 Seiten.