Herr Lagodinsky, wie geht es Ihnen als Deutscher jüdischer Herkunft, wenn Sie miterleben, wie auf den Straßen Berlins und anderer Städte der Mord an Israelis durch die Hamas-Terroristen gefeiert wird und auch in Politik und Zivilgesellschaft die Kritik an der israelischen Gegenreaktion die Solidarität mit Israel zunehmend überlagert?
Sergey Lagodinsky: Viele reden darüber, Juden in Deutschland würden jetzt Angst haben. Ich würde eher von einer Verunsicherung sprechen. Das ist auch nicht neu, Angriffe auf jüdische Menschen und Einrichtungen gab es ja schon zuvor. Was jetzt hinzukommt, ist, dass durch die Massivität der Pogromverherrlichung viele Juden sehr stark ihre Zukunftsperspektiven hinterfragen. Das Sicherheitsgefühl war nie hundertprozentig perfekt, aber viele zweifeln nun, ob es überhaupt irgendwann besser werden kann. Ist eine Zukunft ihrer Kinder und Enkelkinder in Deutschland, in Europa vorstellbar?
Welche Antworten haben Sie persönlich darauf?
Lagodinsky: Für mich als politischer Mensch ist vor allem klar, dass wir die Voraussetzungen dafür schaffen müssen, dass der Zusammenhalt unserer Gesellschaft erhalten bleibt. Dazu gehört auch, die Betroffenheit arabischstämmiger Menschen auf eine inklusive und empathische Art anzusprechen, aber auch eine Mitverantwortung aller an Sicherheit und Zusammenhalt unserer Gesellschaft einzufordern. Denn es ist klar, dass ein Großteil der Menschen, die die Hamas verherrlichen, Teil unserer Gesellschaft sind und bleiben. Sie sind zum Teil hier aufgewachsen, leider oft unter starken Einflüssen von außen. Es ist sehr flach, jetzt nach Abschiebungen zu rufen. So lösen wir keine Probleme. Wir müssen als Gesellschaft uns dieser Probleme als unserer eigener annehmen.
Haben Politik und Gesellschaft vor der arabisch geprägten Variante des Judenhasses zu lange die Augen verschlossen?
Lagodinsky: Ich rede lieber vom migrantisch geprägten Antisemitismus, weil ich selbst auch Erfahrungen mit dem Antisemitismus aus anderen Gruppen – etwa von russischen Spätaussiedlern – gemacht habe. Aber ja, seit etwa 2003 reden wir unter Experten immer wieder vom Phänomen des Antisemitismus unter Migranten. Aus der Politik gab es dafür nur vereinzelt Verständnis, allgemein wurde das nicht ernsthaft adressiert, aus verschiedenen Gründen.
Welchen?
Lagodinsky: Es war nicht nur, weil man sich scheute, etwas gegen Migranten zu sagen und dadurch etwa das Problem am rechten Rand zu relativieren. Wichtiger scheint mir die hohe Hürde für die Politik, sich mit internen Prozessen in migrantischen Gemeinschaften auseinanderzusetzen. Gerade der Einfluss der Medien von außen oder die Diskurse in den Vereinen und Moscheen waren eine Black Box oder wurden als Randnotiz abgetan. Es gab etwa TV-Serien, die aus dem Iran oder der Türkei kommen, die hier gesehen werden und massiv antisemitische Stereotype befeuern. In einer populären iranischen Serie ging es etwa um einen israelischen General, der einem Palästinensermädchen die Augen herausschneiden lässt, um seinem eigenen Sohn das Augenlicht zu retten. So ein Unsinn entmenschlicht Juden und Israel und macht die absurden Vorwürfe aus antisemitischen Fantasien für viele zur gefühlten Realität. Aber auf so etwas haben viele nicht geachtet. Und das war falsch.
Und wie wirkt sich dieser Antisemitismus auf den Alltag der Juden in Deutschland aus?
Lagodinsky: Das Phänomen war immer schon da. In den Schulen etwa, wo Kinder von Mitschülern angefeindet werden, ich kenne auch Fälle, wo jüdische Lehrerinnen von Schülern so drangsaliert wurden, dass sie die Schule verlassen mussten. Ich bekomme Berichte von Eltern, dass ihre Kinder, auch die an den jüdischen Schulen, sehr traumatisiert sind, dass sie nicht mehr allein in die Schule gehen können oder wollen, gesundheitliche Probleme bekommen, einfach Angst haben. Hinzu kommt das Atmosphärische, viele Leute fahren nicht mehr in bestimmte Teile der eigenen Stadt, wenn sie wissen, dass dort antiisraelische Demonstrationen stattfinden. Wenn ich durch Deutschland reise, begegne ich einer aggressiven Stimmung bei den Demonstrationen. Auch ich versuche, die Straßen dann zu vermeiden.
Nicht nur muslimisch geprägte Menschen aus dem arabischen Raum feiern den blutigen Terror gegen Israel regelrecht, sondern auch Mitglieder der linken Szene. Selbst Klima-Galionsfigur Greta Thunberg stellt sich einseitig auf die Seite der Palästinenser. Was läuft da falsch?
Lagodinsky: Greta Thunberg ist mir herzlich egal, sie ist keine Ikone mehr, denn sie benutzt das Thema, das uns alle eint, um zu spalten. Luisa Neubauer hingegen, das deutsche Gesicht von Fridays for Future, sagt genau das Richtige und rettet den Ruf der Bewegung in Deutschland, die wir so sehr gerade jetzt brauchen. Für diesen klaren Kompass bin ich den deutschen Fridays for Future unglaublich dankbar. Das Verhältnis der Linken zu Israel war aber immer schon problematisch. Die linken Bewegungen haben sich selbst immer als immun gegen Antisemitismus betrachtet. Aber die nötige linke Systemkritik artet häufig in antijüdische Verschwörungstheorien aus. Der Diskurs über Dekolonialisierung ist da in eine komplett falsche Richtung gelaufen.
Inwiefern?
Lagodinsky: Da werden Juden als Unterdrücker, als rachsüchtige Machthaber dargestellt, was an uralte antisemitische Verschwörungserzählungen anknüpft. Zugleich werden alle anderen, etwa die arabische Seite, pauschal als Opfer angesehen, obwohl die Geschichte, Politik und Geografie viel komplizierter sind. Allerdings gibt es auch in der linken Szene zum Glück Gruppen, die die Dinge differenziert sehen. Die Entzweiung der Antifa nach dem ersten Irakkrieg war dafür ein wichtiger Meilenstein. Es gibt seitdem eine breite Antifa-Szene, die der falschen Vereinfachung der Israel-Kritik trotzt. Die Jugendorganisationen wie die Grüne Jugend, aber auch Teile der Jusos haben sich immer wieder gegen antiisraelischen Antisemitismus positioniert. Das war für die jüdische Community und für mich persönlich immer der Grund, in deutschen Linken genuine Verbündete zu sehen. Dies ist auch ein Hoffnungsschema für die Zukunft, denn wir brauchen alle progressiven Kräfte, um endlich eine Zweistaatenlösung zu organisieren, aber auch um die israelische Demokratie vor illiberalen Tendenzen zu retten. Die deutsche Linke ist weltweit durch die differenzierte Israel-Position einzigartig und eignet sich als glaubwürdige internationale Verbündete für die israelischen Progressiven. Sie haben gerade jetzt die genuine internationale Solidarität bitter nötig.
Das Recht auf Selbstverteidigung sprechen viele Demonstranten auf deutschen Straßen Israel ab, indem sie allein die Opfer der israelischen Gegenreaktion anprangern, deren Gründe aber ausblenden. Oder Israel gleich ganz das Existenzrecht absprechen, mit Parolen wie „from the river to the sea“…
Lagodinsky: Dagegen gibt es Möglichkeiten im Strafrecht, die aber nicht immer konsequent durchgesetzt werden. Ich finde es richtig, dass der Aufruf „from the river to the sea Palestine will be free“ in einigen Bundesländern zurzeit als Volksverhetzung betrachtet wird – man kann mit Demonstrationsrecht sehr viel durchsetzen. Aber das muss dann auch getan werden. Gleichzeitig wäre es in einer Demokratie falsch, solche Demonstrationen ganz zu verbieten. Natürlich brauchen wir Räume für politische Kundgabe für alle. Zugleich sehe ich das Problem nicht nur in konkreten antisemitischen Inhalten, sondern insgesamt in der Unfähigkeit breiter Teile der Bevölkerung, sich politisch gewaltfrei auszudrücken. Wir müssen uns auch mit Erdogan und seiner Religionsbehörde auseinandersetzen, damit sie nicht länger Öl ins Feuer gießen und wir keine Weltkonflikte in Deutschland austragen. Die Hetze, die von dort kommt, landet bei uns auf den Straßen. Ihre Hetze wird zu unserem Sicherheitsproblem. Das muss Ankara klar gemacht werden.
Und ausgerechnet Gruppen vom rechten Rand spielen sich plötzlich als Verteidiger jüdischen Lebens in Deutschland gegen muslimische Aggression auf …
Lagodinsky: Auf diese Manöver, auch von der AfD, sollte niemand hereinfallen, das ist auch ein Versuch, vom Antisemitismus in den eigenen Reihen abzulenken. Es war Alexander Gauland von der AfD, der die Nazi-Herrschaft einen „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte nannte. Ausgerechnet diese Geschichtsrelativierung bereitet den Boden für viele Jugendlichen, die sich geschichtsvergessen in die Auseinandersetzung begeben. In Deutschland ist es einfacher, das Spiel der Rechten zu durchschauen, weil die Solidarität der demokratischen Parteien steht. In anderen europäischen Ländern besteht die Gefahr, dass sich die verunsicherten Juden in die Arme der Rechten begeben. In Frankreich etwa, wo die Rechtspopulistin Marine Le Pen Demonstrationen für die Solidarität mit Israel missbraucht. Aber Jüdinnen und Juden sollten sich mit diesen falschen „Freunden“ nie einlassen.
Sie selbst sind in der früheren Sowjetunion aufgewachsen. Welche Erfahrungen haben Sie dort als Kind einer jüdischen Familie gemacht?
Lagodinsky: Der staatliche Antisemitismus war in der Sowjetgesellschaft allgegenwärtig, es war völlig klar, dass für Juden bestimmte Stellen oder Berufswege nicht vorgesehen waren. Ich träumte als Jugendlicher davon, Diplomat zu werden, doch auf der Schule für den auswärtigen Dienst in Moskau hatten Juden schlechte Karten. Mein Vater als Arzt durfte nicht nach Moskau, weil er sich geweigert hat, seine jüdische Herkunft in den offiziellen Dokumenten zu tilgen. Erst als ich das Glück hatte, als Schüler ein Jahr in den USA zu verbringen, lernte ich die Selbstverständlichkeit von Freiheit und Demokratie kennen, auch die Selbstverständlichkeit, Jude zu sein.
Zur Person: Sergey Lagodinsky wurde 1975 in Astrachan in der damaligen Sowjetunion geboren. Ende 1993 zog er mit seiner Familie als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland. Er studierte Jura in Göttingen und Öffentliche Verwaltung an der US-amerikanischen Universität Harvard. Er arbeitete als Publizist für Medien wie Deutschlandfunk, und BBC World Service. 2001 trat er der SPD bei, die er 2011 wieder verließ, als das Parteiordnungsverfahren gegen Thilo Sarrazin eingestellt wurde. Seither engagiert er sich bei den Grünen, für die er seit 2019 im Europäischen Parlament sitzt.