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Terry Reintke und Robert Habeck im Interview: „Die EU steht für ganz viel Vereinfachung“

Interview

„Die Europäische Union steht für ganz viel Vereinfachung“

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    Die Grüne-Spitzentruppe (von links) mit Ricarda Lang , Robert Habeck, Terry Reintke, Annalena Baerbock und Omid Nouripour traf sich zunächst in Potsdam, danach reisten Habeck und Reintke ins Flutgebiet weiter.
    Die Grüne-Spitzentruppe (von links) mit Ricarda Lang , Robert Habeck, Terry Reintke, Annalena Baerbock und Omid Nouripour traf sich zunächst in Potsdam, danach reisten Habeck und Reintke ins Flutgebiet weiter. Foto: Monika Skolimowska, dpa

    Frau Reintke, Herr Habeck, nennen Sie bitte jeweils einen guten Grund, warum die Bürgerinnen und Bürger am 9. Juni zur Europawahl gehen sollen. 
    TERRY REINTKE: Weil unsere Demokratie angegriffen wird – von Rechtsextremen in Deutschland und Europa, aber auch von Autokraten wie Putin. Deshalb: wählen gehen und unsere Demokratie schützen. Und natürlich auch, weil wir Grünen der Garant dafür sind, dass der Green Deal, also der Weg in Klimaneutralität und zukünftige Wettbewerbsfähigkeit, weitergeführt wird.

    Terry Reintke zog 2014 als jüngste Frau in das Europäische Parlament (EP) ein. Dort ist sie derzeit unter anderem Ko-Vorsitzende der Grünen/EFA-Fraktion.
    Terry Reintke zog 2014 als jüngste Frau in das Europäische Parlament (EP) ein. Dort ist sie derzeit unter anderem Ko-Vorsitzende der Grünen/EFA-Fraktion. Foto: Boris Roessler, dpa

     
    ROBERT HABECK: Die EU wird der weltpolitische Akteur sein müssen, der unsere Interessen wahrnimmt. Die Nationalstaaten werden auf der globalen Bühne alleine nicht mehr gehört werden.

    Die Wahlbeteiligung 2019 lag schon deutlich höher als bei der Wahl davor. Rechnen Sie damit, dass der Ukraine-Krieg dem Wahlzuspruch einen weiteren Schub gibt, weil die Menschen das Bedürfnis haben, dass Europa enger zusammenrücken muss?
    REINTKE: Der Ukraine-Krieg hat vielen Menschen ins Bewusstsein gerückt, wie wichtig das Friedensprojekt Europa ist. Wir müssen für Sicherheit und Freiheit in der EU zusammenarbeiten. Deshalb ja, ich habe die Hoffnung auf eine hohe Wahlbeteiligung.

    Olaf Scholz hat sich erst spät dazu bekannt, dass auch deutsche Waffen von ukrainischem Gebiet auf russische Ziele abgefeuert werden dürfen. Einmal mehr scheint Deutschland anderen EU-Staaten und den USA hinterher zu sein. Die Grünen waren hingegen von Anfang an sehr klar in ihren Positionen. Wie halten Sie den Zauderkanzler aus?
    HABECK: Zaudern ist das falsche Wort. Es sind extrem schwierige Entscheidungen zu fällen und deshalb ist es gut, wenn man genau abwägt. In diesem Fall ist richtig entschieden worden. Russland greift von Stellungen nahe der Grenze die Region Charkiw massiv an. Es zerstört Wohnhäuser, Einkaufszentren. Deshalb muss die Ukraine die Angriffe aus

    Frau Reintke, Sie sagen, diese Wahlen seien entscheidend in Sachen Demokratie. Bislang klingen Sie aber nicht so, als ob Sie für Ursula von der Leyen von der CDU stimmen würden, selbst wenn die Konservativen stärkste Kraft werden. Wie passt das zusammen?
    REINTKE: Wir haben immer klar gesagt, dass der Handlungsdruck gerade sehr hoch ist. Wir wollen beim Klimaschutz vorankommen, bei der Verteidigung der Demokratie und bei der sozialen Gerechtigkeit in der EU. Deswegen sind wir zu Verhandlungen bereit. Für uns ist zentral, dass wir auch im nächsten Europäischen Parlament wieder aktiv mitgestalten. Aber Ursula von der Leyen ist in ihrer Zielsetzung nicht klar. Sie schließt nicht aus, mit rechtsautoritären Kräften zusammenzuarbeiten. Wir hingegen wollen zwar Mehrheiten verhandeln, aber das gilt nicht, wenn Rechtsautoritäre oder Rechtsextreme in diesen Mehrheiten sitzen.

    Wenn Frau von der Leyen nicht zum Zuge kommt, geht das Vorschlagsrecht an die Grünen. Es gibt Medienberichte, wonach Frau Baerbock eine Kandidatin für die Spitze der Kommission wäre. Ihr Kommentar dazu?
    HABECK: Gar kein Kommentar, wenn ich das so kurz sagen darf.

    Dürfen Sie. Sie dürfen aber auch länger.
    HABECK: Terry Reintke hat die Bedingungen für eine Unterstützung von Ursula von der Leyen ja skizziert. Mein Kommentar darüber hinaus wäre: Man weiß nicht, was oder wen man kriegt, wenn man die CDU wählt bei der Europawahl. Es gibt wahrscheinlich keine Konstellation, bei der das Auftreten der Spitzenkandidatin einerseits und das ihrer Partei anderseits so sehr auseinanderfallen wie bei der Union.

    Oft heißt es, die Europäische Union sei ein Bürokratiemonster. Muss Brüssel so groß und kompliziert sein?
    REINTKE: Natürlich ist es unser Auftrag, die Dinge so bürokratiearm wie möglich zu organisieren. Gleichzeitig will ich daran erinnern, dass die Europäische Union viele nationale Regeln und Vorgaben zusammenführt. Der gemeinsame Binnenmarkt macht gerade Länder wie Deutschland wirtschaftlich sehr viel stärker. Wir profitieren ganz erheblich. Umgekehrt zeigt das Beispiel Großbritannien, was ein Austritt bedeutet: Nach dem Brexit erleben die Unternehmen in

     
    HABECK: Die Europäische Union steht zunächst erst einmal für ganz viel Vereinfachung in unserem Leben. Die Roaming-Gebühren sind vereinheitlicht, wir können durch den Schengenraum reisen, ohne Pässe zu zeigen oder Visa zu beantragen. Wir bekommen einheitliche Ladestecker und -kabel für unsere Smartphones und nicht mehr diesen Kabelsalat. Das sind nur ein paar Beispiele, die wir der EU zu verdanken haben. Die Verfahren sind manchmal kompliziert, und als Wirtschaftsminister kann ich sagen, dass viele Berichtspflichten für die Unternehmen mühsam sind. Deshalb setzen wir uns dafür ein, die Dinge einfacher zu machen. Dass Europa zum Beispiel unser Modell der Praxis-Checks kopiert, also mit den Praktikern etwa die teilweise sehr komplexen Berichterstattungspflichten für Unternehmen, auch im Nachhaltigkeitsbereich, durchforstet, um zu schauen, was brauchen wir wirklich, welche können weg. Aber Europa ist eben auch eine große Erleichterungsmaschine. Das Schlechtreden, die EU sei ein Bürokratie-Beschaffungsapparat, ist in großen Teilen Polemik und entspricht nicht der Wahrheit.

    Der Klimaschutz nimmt als wichtigstes Thema der Deutschen ab, obwohl beispielsweise der Süden Deutschlands gerade mit extremem Hochwasser zu kämpfen hat. Uns fällt als Hauptgrund das vermurkste Heizungsgesetz ein, das Wirtschaft wie Wahlvolk verschreckt hat. Vielleicht als zweiter Grund noch die Aufweichung des Green Deal. Sehen Sie das auch so?
    REINTKE: Angesichts vieler globaler Krisen scheinen sich die Dinge manchmal zu überlagern. Trotzdem bleibt Klimaschutz hoch relevant, er betrifft alle Bereiche: nicht zuletzt unseren Wohlstand, weil es darum geht, ob sich Zukunftstechnologien hier ansiedeln. Dafür kann der Green Deal ein Riesenmotor sein. Wenn wir beispielsweise in grünen Stahl investieren, in Wasserstoff, dann werden da die Jobs der Zukunft geschaffen. Es geht aber eben ganz konkret auch um unsere Sicherheit. Wir erleben ja heute schon, dass Extremwetterereignisse immer häufiger auftreten. Gerade erst haben wir die Hochwassergebiete besucht. Da gilt erst mal der unmittelbare Dank den vielen, die nun mit anpacken. Da wird Unglaubliches geleistet.

     
    HABECK: In den Hochwassergebieten steht jetzt nur eins im Vordergrund: Leib und Leben zu retten. Das ist der Imperativ der Stunde. Die Lage vor Ort ist teilweise verheerend. Den Menschen in den Überschwemmungsgebieten muss aber auch beim Wiederaufbau geholfen werden. Dazu braucht es jetzt ein pragmatisches Handeln von allen Parteien und staatlichen Ebenen. Aber wenn man mit den Leuten redet, dann sagt jeder, dass die Häufigkeit der Ereignisse eine Ursache hat, und das ist die globale Erderwärmung. Zurückdrehen können wir sie nicht, aber ich glaube, dass die fürchterlichen Ereignisse dieser Tage die Debatte darüber anregen werden, wie ernst wir den Klimaschutz nehmen.

    Vor dem Heizungsgesetz war die Gaskrise 2022. Danach gab es auf nationaler und europäischer Ebene zahlreiche Bemühungen, die Versorgung in den Griff zu bekommen. Ist die Energiesicherheit inzwischen wieder voll hergestellt?
    HABECK: Was die akute Versorgungslage angeht, eindeutig ja, sie ist voll wiederhergestellt. Die Gasspeicher sind voll, es sind alternative Infrastrukturen für Gas geschaffen worden und die Stromsicherheit ist rund um die Uhr gewährleistet. Das haben wir im Griff – wenn nichts Neues passiert, und das ist genau der Punkt. Insgesamt hat Deutschland eine hohe Importabhängigkeit, etwa 75 Prozent unserer Energie wird importiert. Aber wenn wir die Transformation, also den Ausbau und die Nutzung der erneuerbaren Energien, im Jahr 2040 zu Ende gebracht haben, wird dieser Anteil auf 30 Prozent runtergegangen sein. Das bedeutet nicht nur eine höhere Energiesicherheit und eine geringere Abhängigkeit von unkalkulierbaren Regimen, sondern auch, dass das Geld, das wir sonst anderen bezahlen, im eigenen Land bleibt.

    Mit der Pipeline Nord Stream 2 wäre die Abhängigkeit von russischem Gas wohl noch gestiegen. Es gibt dazu neue Aktenveröffentlichungen. Haben Sie, Herr Habeck, mit Herrn Scholz über das Thema geredet? Er war damals als Vizekanzler in der GroKo in
    HABECK: Die Akten sind erstaunliche Dokumente einer politischen Fehlleistung. Erstaunlich ist vor allem, dass Putin derart vertraut wurde, obwohl man sehen konnte, dass er die Gasabhängigkeit als Druckmittel einsetzt. Als unsere Gasspeicher 2021 schon ungewöhnlich leer waren, wurde mein Amtsvorgänger gewarnt, dass Russland extra zurückhaltend Gas exportieren könnte, um die vorzeitige Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu erzwingen. EU-Partner warnten ebenfalls. Aber alle Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Das ist eine Fehlleistung der Großen Koalition gewesen, und die Ampelregierung hat sie korrigiert.

    Emmanuel Macron hat in Dresden gerade mit seiner Forderung aufhorchen lassen, den EU-Haushalt und entsprechend die Investitionen zu verdoppeln. Finanziert werden soll das gegebenenfalls über gemeinsame Schulden. Gehen Sie da mit, Frau Reintke?
    REINTKE: Es gibt viele Bereiche, in die wir investieren müssen. Nehmen wir nur die klimaneutrale Modernisierung unserer Wirtschaft. In den USA passiert das schon, da werden Milliarden in die Hand genommen, damit sich Zukunftstechnologien ansiedeln. Es geht um die Wirtschaft, um Jobs, um Wohlstand. Das heißt: Ja, man muss Geld in die Hand nehmen, aber kluge Investitionen zahlen sich aus und kommen uns unterm Strich viel günstiger, als wenn wir das Staaten wie China überlassen und riskieren, dass unsere Unternehmen abwandern.

    Und wie sieht es in Deutschland aus, Herr Habeck? Es gibt einen offensichtlichen Sparzwang, auch im Sozialen. Befördert Austerität die Rechten?
    HABECK: Wenn man sich jetzt wieder im politischen Raum die Schlagworte um die Ohren haut, versperrt man sich den Weg zu pragmatischen Lösungen. Das ist es aber, was wir brauchen: einen neuen Pragmatismus, um die gegenwärtigen Probleme zu lösen. Politik wird daran gemessen, ob sie ein Problem aus der Welt schafft, und das sind keine abstrakten akademischen, sondern sehr lebensweltliche Probleme. Jetzt haben wir Haushalt vor der Brust. Da gelten die Grundlagen dieser Koalition. Wir werden Prioritäten setzen müssen. Das heißt auch sparen. Der Haushalt sollte den Wirtschaftsaufschwung unterstützen, Investitionen in die Sicherheit ermöglichen, inklusive Unterstützung der Ukraine und in die klimaneutrale Transformation. Gleichzeitig ist die Demokratie unter Druck, der Kitt der Gesellschaft wird porös. Wir müssen deshalb wirklich auf den sozialen Zusammenhalt achten.

    Zur Person

    • Theresa „Terry“ Reintke wurde am 9. Mai 1987 in Gelsenkirchen geboren. Das „Kind des Ruhrgebiets“ studierte ab 2006 Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und in Edinburgh. Sie schloss sie mit dem Diplom ab. Nach dem Studium arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag. 2014 zog sie als jüngste Frau in das Europäische Parlament (EP) ein. Dort ist sie derzeit unter anderem Ko-Vorsitzende der Grünen/EFA-Fraktion.
    • Robert Habeck wurde am 2. September 1969 in Lübeck geboren. Er studierte unter anderem Germanistik, Philosophie und Philologie, promovierte in Hamburg und arbeitete einige Jahre als freier Schriftsteller. 2002 wurde er Mitglied bei den Grünen, von 2018 bis 2022 war er Parteivorsitzender. Seit Dezember 2021 ist er Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz und Stellvertreter des Bundeskanzlers. 
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