Frau Knobloch, während in Israel unschuldige Menschen ermordet oder in den Gazastreifen verschleppt werden, feiern Anhänger der Hamas in Berlin-Neukölln, Duisburg und München. Wie geht es Ihnen, wenn Sie diese Bilder sehen?
CHARLOTTE KNOBLOCH: Es ist eine Schande, wenn die Politik in einem Land wie Deutschland es zulässt, dass Menschen aus Freude über den Mord an Juden auf der Straße tanzen. Mir fehlt dafür jedes Verständnis. Die Politik verweist auf Gesetze, die fehlen, um so etwas zu verhindern. Ich bin kein Jurist, aber wenn die Gesetze fehlen, um solche Veranstaltungen zu unterbinden, dann sollte man sie eben schaffen.
In München demonstrierten 200 Palästinenser mitten am Marienplatz, sozusagen der guten Stube der Stadt.
KNOBLOCH: Mich macht das sehr wütend. Wir hatten unsere Veranstaltung für Israel auf der einen Seite des Münchner Rathauskomplexes, am Odeonsplatz. Und auf der anderen, am Marienplatz, wird gegen Israel gehetzt. Ja wo sind wir denn?
Nach den Angriffen der Hamas spricht Israels Premier Netanjahu vom Krieg, der Einmarsch israelischer Bodentruppen in den Gazastreifen scheint unmittelbar bevorzustehen. Ist das wirklich der richtige Weg, um mit dem Terror fertig zu werden?
KNOBLOCH: Wir sind alle keine Generäle, aber ich fürchte, ja. Bislang hat Israel sich bei Angriffen immer eher zurückgehalten und keine Bodentruppen geschickt. Das war für viele innerhalb und außerhalb des Landes schwer verständlich. Diese bisherige Auseinandersetzung hat mit der Lage jetzt aber nichts mehr zu tun. Die frühere Vorgehensweise führt nicht mehr weiter. Es geht hier um das Leben von Hunderten von Zivilisten, es wurden Mütter getötet, Babys, kleine Kinder. Das erfordert eine andere Reaktion.
Israel hat eine der besten Armeen der Welt und einen legendenumwobenen Geheimdienst. Warum hat niemand diese Angriffe kommen sehen?
KNOBLOCH: Wenn die aktuelle Krise beendet ist, wird diese Frage auf den Tisch kommen müssen. Niemand hätte erwartet, dass es jemals zu einer solchen Situation kommen würde.
Was erwarten Sie nun von der Bundesregierung?
KNOBLOCH: Ich habe mir am Donnerstag die Regierungserklärung angeschaut, die war hervorragend. Bislang war die Bundesregierung immer sehr zurückhaltend, auch wenn es diesen einen Satz von Frau Merkel gab, der natürlich immer wiederholt wurde. Aber das waren oft Sonntagsreden. Das scheint sich jetzt zu ändern.
Angela Merkel prägte den Satz, die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson. Olaf Scholz hat ihn im Bundestag wiederholt. Was bedeutet dieser Satz für Sie?
KNOBLOCH: Ich verstehe diesen Satz so, dass Israel sich jederzeit an Deutschland wenden kann und die Hilfe bekommt, die es braucht, wenn das nötig wird. Mit anderen Worten also, dass Israel im Ernstfall nicht allein ist.
Heißt das, dass Deutschland auch Waffen oder Soldaten schicken sollte?
KNOBLOCH: Alles, was jeweils notwendig ist. Das können Waffen sein, das kann etwas anderes sein. Wenn es mal eine Dürre geben sollte, dann schickt man Lebensmittel.
Während Israel sich gegen den Terror der Hamas wehrt, feiert in Deutschland die AfD bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen Rekordergebnisse. Inwieweit belastet Sie das persönlich?
KNOBLOCH: Das belastet mich sehr, aber nicht wegen mir selbst. Es belastet mich, weil ich an unsere Nachkommen denke. Es gibt ja hoffentlich noch in Jahrzehnten jüdische Menschen in Deutschland, die natürlich bestimmte Dinge nicht erlebt haben, die meine Generation erleben musste. Wenn die AfD tatsächlich die Oberhand behalten sollte, dann habe ich schon die Sorge, wie junge jüdische Menschen hier künftig leben werden. Es wird Zeit, dass die demokratischen Parteien sich gemeinsam mit der Frage beschäftigen, wie man die AfD zurückdrängen kann.
Wie erklären Sie sich den Erfolg der AfD?
KNOBLOCH: Warum wählen Menschen diese Partei? Ich frage mich das auch. Manche Wähler wollen offensichtlich genau das, was die Partei bietet. Andere machen sich vielleicht gar keine Gedanken, wen sie da wählen. Wieder andere fallen darauf rein, wenn man ihnen ein Problem vorgaukelt, das gar keines ist – ich denke nur an den Streit um das Heizungsgesetz. Die demokratischen Parteien müssen sich systematisch um diese Wähler kümmern. Die Wähler der AfD müssen überzeugt werden, dass sie einen Fehler machen.
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst bezeichnet die AfD als Nazi-Partei. Würden Sie sich dem anschließen?
KNOBLOCH: Das ist eine Nazi-Partei. Ich habe die 20er Jahre persönlich nicht erlebt, ihre Folgen aber schon – deshalb meine klare Antwort, ja.
Gibt es aus Ihrer Sicht Parallelen vom Aufstieg der AfD zum Aufstieg des Nationalsozialismus in den 1920er und frühen 1930er Jahren?
KNOBLOCH: Es gibt Leute, die sagen, was heute passiert, ist mit der Vergangenheit nicht direkt zu vergleichen. Das stimmt, aber es gibt schon Gemeinsamkeiten und Parallelen. Man hat zum Beispiel den Aufstieg der Nazis damals nicht ernst genug genommen. Und auch in unserer Zeit haben viele gedacht, die AfD wird schon wieder verschwinden wie zum Beispiel die Republikaner oder die DVU vor ihr. Da haben wir uns getäuscht.
Fühlen Sie sich noch sicher in Deutschland?
KNOBLOCH: Selbstverständlich. Aber das hat auch mit meinem Alter zu tun. Wenn ich 20 Jahre jünger wäre, würde ich vielleicht anders antworten. Und ich kann die jungen Leute verstehen, die vielleicht zu dem Schluss kommen, dass sie wegen der derzeitigen Entwicklungen auf Dauer nicht im richtigen Land leben. Nur: Wo ist es denn anders? Auch die jungen Leute müssen ihren Teil leisten, um dieses Land lebenswert zu halten und um etwa die AfD kleinzukriegen.
Sie haben den Holocaust überlebt, sind 1945 nach München zugekehrt und haben sich mit dem Land der Täter arrangiert. Haben Sie dieses Vertrauen in Deutschland auch heute noch?
KNOBLOCH: Ich habe dieses Vertrauen noch. Es hat ein paar Schrammen abbekommen, aber ich habe mein Vertrauen nicht verloren.
Markus Söder hat Sie in der Affäre um das antisemitische Flugblatt von Hubert Aiwanger zurate gezogen. Finden Sie, dass Aiwanger verstanden hat, was er damals als Schüler angerichtet hat?
KNOBLOCH: Leider hat er es nicht verstanden. Wenn ich einen Fehler mache, kann ich das nicht so schnell verdrängen, wie Herr Aiwanger das offenbar konnte. Es ist wirklich erstaunlich, wie gut er und seine Partei jetzt dastehen.
Sie sagten, es stünden „entsetzliche Worte“ im Raum und haben Aiwangers Entschuldigung nicht akzeptiert. Sollte er jetzt die Verantwortung übernehmen und zumindest das Amt des Vize-Ministerpräsidenten nicht mehr anstreben?
KNOBLOCH: Herr Aiwanger hat mich angerufen, und später habe ich noch mit anderen hochrangigen Mitgliedern der Partei gesprochen und meine Meinung zur Sache klar dargelegt. Ich finde seine Entschuldigung ohnehin unglaubwürdig. Erst sagt er, er habe nichts gemacht, dann entschuldigt er sich. Wofür? Einer, der nicht Aiwanger heißt, wäre da auch anders behandelt worden.
Sollte er stellvertretender Ministerpräsident bleiben?
KNOBLOCH: Das muss die Politik entscheiden. Vielleicht gibt es unter seinen Leuten welche, die intelligenter vorgehen.
Hat die Aiwanger-Affäre das Umfeld für das Erstarken der AfD geschaffen?
KNOBLOCH: Ja. Es war von Anfang an meine Befürchtung, dass die Sache am Ende der AfD nützt. Da sind Themen besprochen worden, von denen die AfD profitiert, die Causa Aiwanger wurde in jedem Wirtshaus diskutiert.
Als 2003 der Grundstein für das neue jüdische Gemeindezentrum gelegt wurde, in dem wir uns heute treffen, sagten sie, seit der sogenannten Reichskristallnacht 1938 sei immer ein Teil Ihrer Koffer auf der Flucht gewesen. Sind diese Koffer heute ausgepackt?
KNOBLOCH: Ja, hier sind sie nun ausgepackt. Das jüdische Leben in dieser Stadt ist aufgeblüht mit diesem Gebäude. Es hatte vorher viel Kritik gegeben, wir würden hier ein „Fort Knox“ bauen, wegen der nötigen Sicherheitsmaßnahmen. Und dann standen die Münchner nach der Eröffnung doch über den ganzen Platz Schlange, um die Synagoge zu besichtigen. Das hat mich zu Tränen gerührt.
Würde sich für Sie, für die Jüdinnen und Juden in Deutschland, etwas ändern, wenn die AfD in einem Bundesland mitregieren würde? Angesichts der Umfragen in den ostdeutschen Ländern, in denen 2024 Wahlen sind, ist das ja nicht ausgeschlossen …
KNOBLOCH: Es gibt Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft, die sagen, dass sie dann sofort auswandern würden. Ich kann das verstehen. Aber ich bin eine Kämpfernatur. Wenn ich jünger wäre, dann würde ich diesen Zustand selbst noch ganz anders anpacken. Fakt ist aber: Wir müssen weiterkämpfen. Und da sind auch die Jüngeren gefragt!
Zur Person
Charlotte Knobloch, 90, ist Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Die gebürtige Münchnerin wurde von einer ehemaligen Hausangestellten ihres Onkels vor dem KZ bewahrt. Die nahm das Mädchen mit auf den Bauernhof der Familie und gab es als ihr eigenes uneheliches Kind aus. Ihr Lebensziel ist die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland. Knobloch ist verwitwet und hat drei Kinder.