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Interview: Charlotte Knobloch: "Kinder werden nicht als Antisemiten geboren"

Interview

Charlotte Knobloch: "Kinder werden nicht als Antisemiten geboren"

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    89 Jahre alt und kein bisschen leise: Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.
    89 Jahre alt und kein bisschen leise: Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Foto: Ulrich Wagner

    Frau Knobloch. Sie sind ein Kind des Krieges. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder aus der Ukraine sehen?

    Charlotte Knobloch: Es belastet mich ungeheuerlich. Was wir hier erleben, ist eine Tragödie – und wieder hat diese Tragödie ein einzelner Mann ausgelöst. Das erinnert mich schon sehr an damals. Menschen, die zufrieden in ihrem Heimatland gelebt haben, fliehen ohne ihr Hab und Gut aus der Ukraine, sie wissen nicht, wie es in ihrem Leben weitergeht und ob sie jemals wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie verzweifelt diese Menschen sind. Ihre Häuser und Wohnungen sind zerstört, in ihren Siedlungen schlagen Raketen ein. Es ist unglaublich. Ein Einzelner kann Welten verdrehen und Unglück über ganze Länder bringen.

    Wladimir Putin nennt die Regierung in der Ukraine eine Nazibande, die einen Genozid an einer russischen Minderheit begehe. Verharmlost er damit den Holocaust?

    Knobloch: Geschichte ist schon oft verdreht worden - und genau das tut Putin jetzt auch. Aber wir leben im Heute und nicht im Jahr 1945, nichts rechtfertigt eine solche Argumentation und solche Exzesse wie in der Ukraine. Man kann nur beten, dass ihm das Land nicht in die Hände fällt. Aber das ist im Moment eher ein Wunsch als eine Hoffnung.

    In der Ukraine leben noch etwa 400.000 Juden. Die ersten Flüchtlinge haben sich bereits bei Ihnen gemeldet. Können Sie ukrainischen Juden raten, nach Deutschland zu fliehen – in ein Land, in dem der Antisemitismus beständig zunimmt?

    Knobloch: Deutschland ist ein sicheres Land für jüdische Menschen. Natürlich haben wir Probleme, Juden werden nach wie vor beleidigt, ausgegrenzt und angegriffen. Und diese schrecklichen Dinge will ich auch nicht kleinreden, im Gegenteil. Aber Antisemitismus gibt es in vielen anderen Ländern auch, er ist hunderte von Jahren alt und auch kein rein deutsches Phänomen. In Deutschland tut er nur besonders weh. Trotzdem haben sich nach dem Krieg Juden entschieden, hierzubleiben und sich ein neues Leben aufzubauen, so wie mein Vater damals auch. Selbstverständlich darf der Kampf gegen den Antisemitismus nicht erlahmen, aber so lange ich die Regierung und große Teile der deutschen Gesellschaft hinter uns weiß, kann ich einem Juden aus der Ukraine auch sagen, dass er in Deutschland hinreichend sicher leben kann.

    Wo beginnt Antisemitismus eigentlich? Im Elternhaus? In sozial schwierigen Milieus? In der Schule? Auf vielen Pausenhöfen ist „Du Jude“ heute ein gäüngiges Schimpfwort.

    Einen ruhigen, aber zugleich emotionalen Blick auf das jüdische Leben in Deutschland: Die Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde für München und Oberbayern Charlotte Knobloch.
    Einen ruhigen, aber zugleich emotionalen Blick auf das jüdische Leben in Deutschland: Die Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde für München und Oberbayern Charlotte Knobloch. Foto: Ulrich Wagner

    Michael Friedman hat einmal treffend gesagt, dass Kinder nicht als Antisemiten geboren werden. In erster Linie ist es also die Erziehung: Man muss den Kindern beibringen, dass sie eine Heimat haben in diesem Land, dass sie sich für diese Heimat einsetzen müssen, und dass zu dieser Heimat Menschen verschiedener Herkunft und verschiedener Religionen gehören. Hier hat die politische Bildung über viele Jahre leider versagt. Inzwischen habe ich allerdings das Gefühl, dass junge Menschen interessierter und informierter sind als beispielsweise die Generation ihrer Eltern. Wenn ich heute von Schulen eingeladen werde und aus meinem Leben erzähle, spüre ich eine neue Aufgeschlossenheit, die auch damit zu tun hat, dass sich die Lehrer stärker einbringen. Früher saßen viele Schüler bei solchen Gelegenheiten einfach nur desinteressiert in der Klasse, sind teilweise sogar eingeschlafen, und haben diesen Pflichttermin über sich ergehen lassen. Inzwischen können Schüler viel freier über diese Zeit reden, sie gehen nicht mit einer gefühlten Schuld nach Hause, die sie in Wirklichkeit ja gar nicht haben. Am Ende aber kommt es aber natürlich vor allem auf das Elternhaus.

    Bei den Anti-Corona-Protesten sind vorwiegend Ältere auf den Straßen. Was empfindet eine Frau wie Sie, die den Holocaust überlebt hat, wenn sich Demonstranten dort Judensterne anheften mit der Aufschrift „ungeimpft“ und sich mit einem historisch irrwitzigen Vergleich quasi selbst zu Verfolgten erklären?

    Knobloch: Für Menschen meiner Generation und meiner Herkunft ist das schon sehr belastend, zumal das ja lange Zeit weitgehend ohne Konsequenzen geblieben ist. Letztlich sind solche Auswüchse vermutlich auch das Ergebnis mangelnden Geschichtsbewusstseins oder einer ungenügenden Konfrontation mit dem Thema in der Schule, wie wir sie über zwei Generationen hinweg erlebt haben. Da fehlte es doch sehr an Aufklärung. Diese Menschen denken offenbar gar nicht darüber nach, was sie da für Vergleiche ziehen.

    Der Antisemitismus, der in der Familie oder auf der Straße gedeiht, ist das eine. Aber gibt es nicht längst auch einen Antisemitismus der Institutionen? Amnesty International hat Israel gerade zum Apartheidstaat erklärt, die Deutsche Welle hatte in ihrer arabischsprachigen Redaktion mehrere Antisemiten und

    Knobloch: Absolut. Antisemitismus finden Sie überall auf der Welt, in Gruppen, in Religionen und Organisationen. Es stört mich sehr, dass Vorwürfe wie der von Amnesty oder der BDS-Kampagne, die zum Boykott Israels auf allen Ebenen aufruft, gerade in Deutschland so viel Widerhall finden. Hier wünsche ich mir nicht nur politisch und gesellschaftlich mehr Gegenwehr, sondern auch in der Justiz..

    Wird Antisemitismus in Deutschland zu lax verfolgt?

    Knobloch: Ich will hier keine Richterschelte betreiben, daher nur so viel: Manche Urteile sind mir schon unverständlich, und natürlich hat manches Gesetz auch noch seine Lücken. Wenn ein Politiker behaupten kann, das Denkmal für die Opfer des Holocaust in Berlin sei ein Schandfleck, dann frage ich mich schon, warum das für ihn ohne juristische Folgen bleibt.

    Die Schriftstellerin Eva Menasse, die selbst jüdische Wurzeln hat, hält die Antisemitismusdebatte in Deutschland für eine, so wörtlich, fehlgeleitete, hysterische Pein, die einem irren Moralismus folge anstatt stärker reale antisemitische Straftaten zu verfolgen. Fühlen Sie sich angesprochen?

    Knobloch: Nein. Wir haben hier noch sehr viel zu tun, und da wünsche ich mir von der ganzen Gesellschaft, vor allem von den Kirchen, den Parteien oder den Gewerkschaften noch deutlich mehr Engagement. Diese Organisationen erreichen sehr viel mehr Menschen als wir, sie haben eine besondere Verantwortung und sollten ihre Möglichkeiten auch nutzen. Nur wenn man mit den Leuten redet, kann man sie überzeugen und der grassierenden Geschichtsunwissenheit begegnen. Was wir erleben, ist sehr real.

    Charlotte Knobloch ist persönlich schwer getroffen über das Leid, das der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine erzeugt.
    Charlotte Knobloch ist persönlich schwer getroffen über das Leid, das der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine erzeugt. Foto: Ulrich Wagner

    Wo ziehen Sie denn die Grenze zwischen legitimer Israelkritik und beginnendem Antisemitismus? Ist diese Grenze mit dem Apartheid-Vorwurf schon überschritten?

    Knobloch: Hier geht es nicht mehr um den Hass auf einen einzelnen Menschen, weil er Jude ist, sondern um ein ganzes Land. Israel ist zwar im Prinzip ein eigenes Thema, aber Judenhass kann sich natürlich auch daran festmachen. Die Realität in Israel hat nichts mit „Apartheid“ zu tun, wer so etwas behauptet, überschreitet ganz klar eine Grenze. Kritik ist das Eine, Dämonisierung ist etwas anderes.

    Sie haben Ihr ganzes Leben der Aufklärung und dem Kampf gegen den Antisemitismus gewidmet. Dennoch nimmt er eher zu als ab. Werden Juden in Deutschland je ohne Angst vor Anfeindungen und Gewalt leben können?

    Knobloch: Ich tue mich schwer, Ihnen auf diese Frage eine Antwort zu geben. Seit vielen Jahrhunderten zieht sich der Antisemitismus wie ein roter Faden durch die Geschichte und hat sich auch durch die Niederlage der Nazis nicht ausrotten lassen. Und wenn es „nur“ die Beschneidungsdebatte war: Man hat immer wieder versucht, den Juden etwas vorzuwerfen. Als ich begonnen habe, mich gegen Antisemitismus und Judenhass zu engagieren, bin ich als „Mahnerin“ belächelt und auch beschimpft worden. Sogar in den eigenen Reihen hat es damals nicht jede und nicht jeder gut gefunden, dass ich mich so weit nach vorne wage. Heute macht mir niemand mehr Vorwürfe, ganz im Gegenteil, aber leider Gottes ist es mit den Jahren nicht besser geworden, sondern die Situation hat sich dramatisch verschärft. Der Antisemitismus hat sich regelrecht festgesetzt in Deutschland, und die Auseinandersetzung mit ihm ist heute nicht mehr die Sache einiger weniger einzelner, sondern eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft. Er kommt heute nicht nur von rechts, sondern auch von links und aus dem islamistischen Milieu, und judenfeindliche Äußerungen sind heute meist nicht nur dahin gesagt, sondern kommen aus Überzeugung. Die Lage ist anders als früher – aber ich werde nicht aufhören, mich dagegen aufzulehnen.

    Das klingt sehr bitter. War Ihr ganzer Kampf womöglich vergebens?

    Knobloch: Nein, natürlich nicht, aber ich kann mich auch nicht ständig fragen, ob sich das alles gelohnt hat. Wirklich Erfolg hatte ich nicht. Aber ich hoffe dennoch, dass ich viele Menschen zum Nachdenken gebracht habe und vielleicht weiter bringe. Und natürlich habe ich über Jahrzehnte auch viel Positives erlebt und für mein Engagement sehr viel zurückbekommen.

    Ihr Vater Fritz Neuland, ein Münchner Anwalt, hat sich nach dem Krieg entschieden, nicht nach Israel auszuwandern, sondern in München zu bleiben und das jüdische Leben wieder mit aufzubauen. Sie selbst stehen auch in dieser Tradition. War es, aus heutiger Sicht, die richtige Entscheidung?

    Knobloch: Er war in jedem Fall der größere Optimist. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich seinen Optimismus verstanden und begonnen habe, nach seinem Optimismus zu leben.

    Sie hatten lange Zeit einen gepackten Koffer auf dem Dachboden stehen, um Deutschland notfalls doch noch schnell verlassen zu können ...

    Knobloch: ...ja, aber mein Vater ist noch in einem Land aufgewachsen, in dem Juden bis zum Beginn der Naziherrschaft vergleichsweise gut leben konnten, insofern war die Bindung an Deutschland bei ihm vermutlich stärker. Er war, zum Beispiel, ein begeisterter Wagner-Anhänger, das hat ihn geprägt. Und manche Zweifel, die ich bis heute noch habe, hätte er vermutlich nicht gehabt. Mein Vater hat im Antisemitismus nach 1945 nie eine Gefahr für die neue Demokratie in Deutschland gesehen. Ich tue das zwar im Prinzip auch nicht, ich würde da allerdings ein „noch“ einfügen. Der

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