Herr Butterwegge, die Bundesregierung muss sparen. Die Kindergrundsicherung ist deshalb kaum mehr durchsetzbar, die Regeln für das Bürgergeld sollen nachgeschärft werden, die Entwicklungshilfe wird gekürzt. Sparen wir auf dem Rücken der Armen?
CHRISTOPH BUTTERWEGGE: Ja. Mich empört besonders, dass sowohl auf Geflüchtete als auch auf Bürgergeldempfänger nicht deshalb mehr Druck ausgeübt wird, weil die für sie geltenden Regelungen falsch oder überholt wären, sondern wegen der Haushaltssituation. Man saniert den Bundeshaushalt auf Kosten der Ärmsten in unserer Gesellschaft und vergeht sich aus Spargründen an ihnen. Wenn die öffentlichen Kassen leer sind, müssten die politisch Verantwortlichen schauen, wer mehr Geld für den Staat erübrigen kann – und das können die Armen am allerwenigsten. Ausgerechnet beim Bürgergeld über Nullrunden zu sprechen, ist der völlig falsche Ansatz.
Woher könnte das Geld denn kommen?
BUTTERWEGGE: Es gibt in Deutschland immer mehr Multimillionäre und Milliardäre, die ohne weiteres höhere Steuern zahlen könnten. Aber dieses Thema wird von den etablierten Parteien tabuisiert. Seit der Kanzlerschaft von Angela Merkel gilt das Dogma, dass es keine Steuererhöhungen geben dürfe, egal für wen. Das sehe ich anders. Man sollte gerade in einer Krisensituation von Wohlhabenden und erst recht von Reichen und Hyperreichen mehr finanzielle Verantwortung fordern. Stattdessen richtet sich der Blick stets nach unten. Entsolidarisierungstendenzen haben in unserer Gesellschaft einen weiteren Höhepunkt erreicht. Was mich dabei besonders beunruhigt ist, dass es eine ganz breite Koalition von Besitzstandswahrern gibt, die den Reichtum weniger nicht antasten will. Dazu gehört nicht allein die FDP, sondern auch die Union sowie die AfD – unterm Strich gibt es im Bundestag eine parlamentarische Mehrheit, die nicht mehr bereit ist, den sozial Benachteiligten per Gesetz unter die Arme zu greifen.
Hat sich nicht schlicht die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Sozialstaat zu aufgebläht ist?
BUTTERWEGGE: Die Aufwendungen des Sozialstaates sind im historischen Vergleich aktuell gar nicht besonders hoch – sie waren schon höher, beispielsweise während der Weltwirtschaftskrise vor knapp 50 Jahren. Entscheidend ist die so genannte Sozialleistungsquote: Man darf nicht die absoluten Summen der sozialen Ausgaben miteinander vergleichen, sondern muss sie in Relation setzen zum Bruttoinlandsprodukt. Heute liegt die Sozialleistungsquote bei rund 30 Prozent. Ich finde, ein Drittel des gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtums für Soziales auszugeben, ist nicht zu viel. Denn es profitieren ja nicht nur die Armen, es profitiert auch die Mittelschicht, etwa vom Kindergeld.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den Sparzwängen und der gesellschaftlichen Gereiztheit?
BUTTERWEGGE: Unsere Gesellschaft befindet sich im Krisenmodus. Das hat angefangen mit der Covid-19-Pandemie und setzte sich mit der Explosion der Energiepreise im Gefolge des Ukraine-Krieges sowie der Inflation fort. Alle drei Krisenprozesse haben die Ärmeren, aber auch Teile der Mittelschicht stark getroffen. Allein deshalb ist doch klar, dass in solchen Krisensituationen die Ausgaben des Staates steigen. Oder nehmen Sie das Wohngeld: Es wurde von der Ampel-Regierung deutlich erhöht. Warum tat sie das? Nicht wegen ihrer Großherzigkeit, sondern weil die Mieten so stark gestiegen sind – was unter anderem daran liegt, dass man den Sozialen Wohnungsbau gegen die Wand gefahren hat und erheblich mehr Wohnungen aus der Mietpreis- und Belegbindung herausfallen, als ihr zusätzlich unterliegen. Für die FDP war es sicher auch nicht unwichtig, dass höheres Wohngeld am Ende den Vermietern zufließt, also eher Vermögenden. Will man die Kluft zwischen Arm und Reich schließen und nicht vertiefen, muss der öffentliche Wohnungsbau vorangetrieben werden. Man macht aber lieber die Schwächeren in der Gesellschaft für Fehler und Versäumnisse des Staates verantwortlich. Dass die Konzernerbin und reichste Frau Deutschlands, Susanne Klatten, ihr Milliarden-Vermögen an ihre Kinder verschenkt und dabei die Erbschaftsteuer umgeht, sorgt kaum für Empörung. Dabei wäre eine Reform des Steuersystems ein wichtiger Hebel, um finanzielle Nöte des Staates zu lindern.
Gehört zur Wahrheit aber nicht auch, dass der Sozialstaat nur so lange funktioniert, wie die Gesellschaft das Gefühl hat, dass es gerecht zugeht und die Gutmütigkeit nicht ausgenutzt wird?
BUTTERWEGGE: Es gibt Sozialneid nach unten. Spitzenpolitiker der CDU unterstellen einfach über 100.000 Bürgergeldempfängerinnen und -empfängern, dass sie nicht arbeiten wollen, sondern Totalverweigerer seien. Natürlich gibt es solche Menschen, die den Sozialstaat ausnutzen, aber nur in einer geringen Zahl. Eine rigide Sanktionspraxis, wie sie jetzt gefordert wird, träfe allerdings kaum Trickser und Täuscher, sondern hauptsächlich Menschen, die gesundheitliche oder psychische Probleme und so viel Angst vor dem Jobcenter haben, dass sie dessen Briefe gar nicht mehr öffnen. Übrigens nutzen Spitzenverdiener und Hochvermögende die komplizierte Steuergesetzgebung gern, um dem Staat sehr viel mehr Geld vorzuenthalten. Nur wird dieser Missbrauch so gut wie nie öffentlich thematisiert und problematisiert. Lieber vergreift man sich an Schwächeren, die weder Steuerberater noch Anwälte bezahlen können.
Wieso ist das so?
BUTTERWEGGE: Wenn man den Sozialneid nach unten kultiviert, hat das für manche Menschen eine Entlastungsfunktion. Angehörige der unteren Mittelschicht blicken auf jene herab, denen es noch schlechter geht, fühlen sich deshalb besser und können sich bewusst von dieser Gruppe abgrenzen. Denn in Krisensituationen grassiert immer die Angst, auch selbst abzusteigen. Man erhöht sich selbst und sichert sich ab, weil man ja zu den Fleißigen gehört und die anderen ihre Armut angeblich selbst verschuldet haben. Leider wird das von Politikern bewusst ausgenutzt.
Die FDP argumentiert: Gebt den Leuten nicht mehr Geld, sondern mehr Chancen. Ist da nicht etwas dran? Bildung ist nach wie vor stark vom Elternhaus abhängig – und wer keinen Berufsabschluss hat, landet schneller im Bürgergeld.
BUTTERWEGGE: Gerade diese Partei tut aber wenig, um Kindern aus sozial benachteiligten Familien eine gute Bildung zu ermöglichen. Wer längeres gemeinsames Lernen aller Kinder ablehnt, Privatschulen fördert, die Lernmittelfreiheit beschneidet und am liebsten wieder Studiengebühren erheben würde, ist bezüglich der Bildung für Arme wenig glaubwürdig. Es ist für mich pure Heuchelei, zu sagen, man investiere lieber in Bildung, als den Armen direkt Geld zu geben, denn auch der Bildungsetat und die Mittel für das BAföG wurden bei den „Sparhaushalten“ beschnitten. Dadurch wurden die Hürden für Kinder aus sozial benachteiligten Familien weiter erhöht. In den Schulen sind die Toiletten baufällig, es regnet teilweise durchs Dach – wer von Bildung redet, muss diese Probleme lösen. Wer das nicht tut, spielt nur gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aus. Predigt man den Armen „Bildung, Bildung, Bildung“, schwingt untergründig der Vorwurf mit, selbst schuld an der Armut zu sein, weil man sich oder seine Kinder nicht gebildet habe. Bildung ist kein Patentrezept, um Armut und soziale Ungleichheit in der Gesellschaft zu beseitigen. Elf Prozent aller im Niedriglohnsektor Beschäftigten haben einen Hochschulabschluss. Anders als noch in meiner Jugend ist der soziale Aufstieg heute gar nicht mehr so einfach über Bildung zu erreichen.
Sehen Sie auch Fortschritte, die die Ampel auf den Weg bringt? Immerhin soll das Kindergeld steigen.
BUTTERWEGGE: Das ist richtig, es wird zum 1. Januar 2025 um 5 Euro auf 255 Euro pro Monat erhöht. Gleichzeitig haben die Regierungsparteien aber beschlossen, dass der steuerliche Kinderfreibetrag bereits rückwirkend zum 1. Januar 2024 um 228 Euro auf 9.540 Euro und noch mal um 60 Euro auf dann 9.600 Euro im nächsten Jahr steigt. Daraus resultiert eine monatliche Steuerersparnis für Spitzenverdiener von 377,43 Euro im Jahr 2024 beziehungsweise 379,80 Euro im Jahr 2025. Chefärzte bekommen also für jedes Kind in diesem Jahr 127,43 Euro monatlich mehr als Krankenschwestern, und im nächsten Jahr sind es immer noch 124,80 Euro
Seit der von Kanzler Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ wird immer wieder die Rechnung aufgemacht: Bomben oder Butter, also Sicherheit oder Soziales? Ist das nicht ein bisschen einfach gedacht – immerhin ist es Aufgabe des Staates, die Bürger zu schützen.
BUTTERWEGGE: Der Aktienkurs von Rheinmetall hat sich gegenüber der Zeit vor dem Ukraine-Krieg fast verfünffacht. Und Rüstungsaktien besitzen nicht die Armen. Die von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius wie eine Monstranz vor sich hergetragene Abschreckungsphilosophie halte ich für intellektuell eher schlicht. Dahinter steckt die Logik: Wenn ich mich bedroht fühle, schaffe ich mir eine Keule an, aber der Aggressor kauft sich dann eine größere Keule, ich mir zwei Keulen und so fort … Das führt nur zu einem Wettrüsten. Eigentlich geht es doch nicht um Kriegstüchtigkeit, sondern um Friedensfähigkeit. Diese müsste man durch Verhandlungen stärken.
Die Bedrohung durch Russland ist doch nicht abstrakt. Oder sehen Sie das anders?
BUTTERWEGGE: Die 32 Nato-Staaten müssen keine Angst vor Russland haben, schließlich sind ihre Rüstungsausgaben um ein Vielfaches höher. Trotzdem wird gerade eine Vorkriegsstimmung erzeugt, die rationales Handeln erschwert. Als Kind wurde einem nicht bloß in Köln erzählt: Wenn wir nicht aufrüsten, steht der Russe bald am Rhein. Auch wenn das hierzulande niemand wahrhaben will: Es ist genau umgekehrt, Nato-Truppen stehen heute an der russischen Westgrenze und eine Kampfbrigade der Bundeswehr ist bald in Litauen nur wenige Kilometer von ihr entfernt.
Und russische Truppen stehen in der Ukraine …
BUTTERWEGGE: Wo sie große Verluste erleiden und Wochen brauchten, bis sie ein Stahlwerk besetzten. Selbst beim Angriff auf die angrenzende Ukraine war die russische Armee mit riesigen logistischen Problemen konfrontiert. Für die Bundesrepublik stellen sich ganz andere Fragen, etwa ob das Geld für Kanonen oder Butter verwendet werden soll. Die 100 Milliarden Euro für das Sondervermögen Bundeswehr hätte man besser in den öffentlichen Wohnungsbau, in die Kindergrundsicherung, in die Pflege und in die Versorgung von Obdachlosen gesteckt. Leider ist die Lobby der Armen nicht so stark wie die Rüstungslobby.
Zur Person
Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt, 2017 als parteiloser Kandidat der Linken für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert und kürzlich die Bücher „Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung“ sowie „Umverteilung des Reichtums“ veröffentlicht.
War es nicht schon immer so, dass es die trifft die sich am wenigsten wehren können? Der Einfluss von Besitz dagegen wird politisch kaum thematisiert, im Gegenteil selbst auf Nachfragen versucht man den Lobbyismus unter den Tisch zu kehren. Denen die solche Entscheidungen treffen gehört das Grundgesetz um die Ohren gehauen (Art.14 Abs.2) „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Was bitte gibt es daran nicht zu verstehen?
Jemandem etwas „um die Ohren hauen“? Herr Zimmermann, solches Tun ist bestimmt nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Und obgleich ich Herrn Butterwegge zum Teil zustimme (z. B. bei der Aufrüstungsspirale), ist es doch so, dass Deutschland im globalen Wettbewerb steht. Dies verengt den Handlungsspielraum ungemein. (vgl. Müllermilch, Stihl). Aber international hat da doch Olaf Scholz einen großartigen Erfolg mit der vereinbarten Mindeststeuer erzielt. („Olaf Scholz treibt historische Steuerrevolution voran“, war bereits am 10.07.2021 unter spd.de/Steuerrevolution zu lesen.) Was mir beim Thema Bürgergeld allerdings fehlt, ist die Frage, ob nicht besser vom Ausländergeld gesprochen werden sollte. (Es ist zu vermuten, dass betragsmäßig der höhere Teil davon nicht an deutsche Staatsbürger fließt.)
"Ausgerechnet beim Bürgergeld über Nullrunden zu sprechen, ist der völlig falsche Ansatz." Wo lebt der Herr eigentlich? Kann der nicht rechnen? Das Bürgergeld wurde in den vergangen beiden Jahren um mehr als 25 % erhöht. Ich kenne immer mehr Menschen, die ihren Job hingeschmissen haben, weil es sich bei den tollen Bürgergeldsätzen kaum mehr lohnt zu arbeiten. Nullrunden beim Bürgergeld ist der falsche Weg! Die Bürgergeldsätze müssen dringend runter, damit es sich wieder lohnt zu arbeiten. Die Leute müssen aus ihrem Wolkenkukucksheim abgeholt und von ihrem Sofa heruntergeholt werden! Gleichwohl müssen natürlich die Kinderbetreuungsmöglichkeiten gerade für alleinerziehende Mütter ausgebaut werden, damit auch diese die Möglichkeit haben zu arbeiten.
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