Frau Bas, Sie sind gerade aus Israel wiedergekommen. Anlass Ihres Antrittsbesuchs bei Knesset-Präsident Levy war der nationale Holocaust-Gedenktag, der an die sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden erinnert. Was war Ihr stärkster Eindruck von dieser Reise?
Bärbel Bas: Die Gespräche mit Überlebenden der Shoa. Einer von ihnen ist Rabbiner Israel Meir Lau, er war 10 Jahre lang aschkenasischer Oberrabbiner Israels. Ihn habe ich in der Knesset in einem sehr intimen Rahmen getroffen, von unseren Gastgebern „Gedenken im Wohnzimmer“ genannt. Und ich war bei AMCHA, einer Organisation, die sich mit den Holocaust-Traumata befasst, also mit deren psychologischer Aufarbeitung. Dort habe ich eine 92-jährige Frau kennengelernt, die bis zu ihrem 80. Lebensjahr nicht über ihre Erlebnisse gesprochen hat, auch nicht mit ihrer Familie. Erst durch Unterstützung von außen und dadurch, dass ihre Tochter und die Enkelkinder immer wieder gefragt haben, konnte sie damit beginnen. Sie wollte eigentlich nie wieder Deutsch sprechen, dann fing sie doch damit an. Das war sehr bewegend und gleichzeitig bewundere ich sie dafür. Sie geht jetzt in Schulklassen und berichtet über ihre schrecklichen Erlebnisse. Sie hat einen nicht weniger vollen Terminkalender als ich.
Kurz vor dem Besuch flogen wieder die Raketen zwischen Israel und den Palästinensergebieten. Wir haben den Krieg in Europa, so viel Gewalt, so viel Angst. Wie gehen Sie damit um?
Bas: Das alles löst Angst aus, nicht nur bei mir, sondern auch bei den Menschen, mit denen ich zum Beispiel in meinem Wahlkreis spreche. Da kommen Frauen und Männer zu mir, die anfangen zu weinen, wenn wir über Krieg reden, weil das alles für sie wieder so nah ist. Ich finde es deshalb sehr gut, dass die SPD-geführte Regierung nicht sofort mit Hurra der Lieferung schwerer Waffen zugestimmt hat. Sozialdemokraten, aber auch die Bundesregierung insgesamt, haben sich mit diesem Thema nicht leichtgetan. Ich habe in meiner Rede vor der Bundesversammlung ja nicht umsonst gesagt, dass jeder Krieg nur Verlierer kennt. Trotzdem muss man der Ukraine, die in Europa auch unsere Werte verteidigt, so helfen, dass sie dazu eben auch in der Lage ist. Die Gewalt muss ein Ende finden.
Die Entscheidung über die Gepard-Panzer ist im Kanzleramt getroffen worden. Hätte sie nicht im Parlament entschieden werden müssen?
Bas: Richtig ist, dass politisch derart schwierige Entscheidungen ins Parlament gehören und gegenüber der Öffentlichkeit dargestellt und begründet werden müssen. Das ist am Donnerstag ja auch geschehen, als der Bundestag nach intensiver Debatte den gemeinsamen Antrag von Koalition und CDU/CSU angenommen hat.
Aber noch mal: Die Entscheidung über die Lieferung fiel vor der Debatte.
Bas: Ja, aber am Ende hätte das Parlament am Donnerstag auch mehrheitlich Nein sagen können. Dann würde nichts geliefert werden. Ich bin übrigens froh, dass diese Entscheidung zusammen mit der CDU und CSU, also mit einer großen Mehrheit, getroffen wurde. Die Unterstützung der Ukraine steht jetzt auf einem breiten und festen Fundament.
Was bedeutet sie für die künftige Rolle Deutschlands in der Welt?
Bas: Nein. In Israel beispielsweise wurde unsere Entscheidung sehr positiv aufgenommen. Aus der israelischen Geschichte heraus gibt es in der Frage der Sicherheit des Staates verständlicherweise eine ganz andere Sicht als bei uns. Dort hat man sich eher gefragt, warum wir bisher so leichtgläubig waren und darauf vertrauten, dass überall in der Welt schon irgendwie Frieden herrschen wird. Die Israelis begrüßen es, dass wir jetzt das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr schaffen wollen. Der Kommentar dort: Endlich habt ihr verstanden, dass man wehrhaft sein muss, wenn man Frieden haben und erhalten will.
Für die Sozialdemokraten war die Lieferung schwerer Waffen eine schwierige Entscheidung. Prominente Vertreter wie Ralf Stegner haben bis zum Schluss merkbar damit gehadert.
Bas: Die SPD war immer eine Partei, die sich für Frieden, Freiheit und Diplomatie weltweit eingesetzt hat. Wir haben es nicht für sehr realistisch gehalten, dass es noch einmal zu einem solchen Krieg in Europa kommt. Aber wir müssen die Realitäten anerkennen. Gleichzeitig ist das kein Grundsatzbeschluss für alle Zeiten. Er ist der Situation geschuldet, es ist jetzt für den Moment der richtige Schritt, den wir mit den europäischen Partnern gehen, um Frieden zu schaffen.
Die SPD hat vor allen Dingen in Gerhard Schröder einen Problemgenossen. Wie sollte die Partei Ihrer Meinung nach mit ihm umgehen?
Bas: Ich finde sein Verhalten tragisch. Er zerstört das Ansehen seiner Kanzlerschaft, die ja viel Positives für Deutschland hatte. Und er schadet sich selbst als Person. Das alles ist bedauerlich. Frank-Walter Steinmeier hat eine Möglichkeit gefunden, sich mit seiner Russland-Politik kritisch auseinanderzusetzen. Ich weiß nicht, warum Gerhard Schröder das nicht auch schafft.
Ihr Vorgänger Schäuble hatte sich für die Schaffung von Bürgerräten eingesetzt. Machen Sie da weiter?
Bas: Also, ich möchte da gerne weitermachen. Ich gebe aber zu, dass es quer durch alle Parteien Befürworter und Gegner gibt. Die Gegner haben Angst, dass es durch diese Bürgerräte zu einer Institution kommt, die eine Art Nebenparlament wird. Das ist aber nicht die Idee, die ich damit verbinde.
Sondern?
Bas: Bürgerräte können niemals die repräsentative Demokratie ersetzen, sie können aber einen Beitrag dazu leisten, das Parlament näher an die Bürgerinnen und Bürger zu bringen. Bürgerräte sollten sich nach meiner Einschätzung mit konkreten gesellschaftspolitischen Themen befassen. Die Impfpflicht wäre so ein Thema gewesen. Ein Zweites könnte eine allgemeine Dienstpflicht sein, womit ich nicht die Wiedereinführung der Wehrpflicht meine, sondern ein Jahr, in dem Männer und Frauen einen gemeinnützigen Dienst leisten. Die einen finden sie gut, die anderen nicht. Damit könnte sich ein Bürgerrat befassen.
Sie wirken bei der Sitzungsleitung im Bundestag immer sehr konsequent. Wie nervenaufreibend ist es eigentlich, den Parlamentsbetrieb zu leiten?
Bas: Es macht mir Spaß. Ich weiß nicht, ob man das merkt, aber ich mache das gerne. Am Beginn der Sitzung gucke ich von rechts nach links, lasse meinen Blick schweifen. Es ist wirklich immer noch für mich eine besondere Ehre, da oben zu sitzen. Nicht, weil man so von oben thront, sondern weil man alles im Blick hat. Das hilft, innerlich auf jede Eventualität vorbereitet zu sein und im Fall der Fälle einzuschreiten. Manchmal überlege ich mir beim Blick in die Tagesordnung, was da heute wieder kommen könnte. Wir haben uns im Präsidium darauf verständigt, dass wir in der Sprache ein würdiges und angemessenes Niveau halten wollen. Das Wort Dummschwätzer höre ich allenfalls in meinem Wahlkreis Duisburg auf der Straße, aber das gehört nicht in den Bundestag.
In Ihrem Präsidium ist ein Vizeposten weiterhin unbesetzt. Muss sich die AfD damit abfinden, dass sie nicht im Präsidium vertreten ist?
Bas: Es gibt für keine Fraktion einen Anspruch darauf, dass der von ihr vorgeschlagene Kandidat oder die Kandidatin auch gewählt wird. Dies ist inzwischen gerichtlich geklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass es kein faktisches Besetzungsrecht der Fraktionen gibt. Stattdessen hat es die Wahlfreiheit der Abgeordneten betont. Ich sehe deshalb weder einen Grund noch eine Mehrheit dafür, daran etwas zu ändern. Im Übrigen haben auch die Vizepräsidentinnen und der Vizepräsident neben der Sitzungsleitung auch repräsentative Aufgaben wahrzunehmen. Insofern kann ich verstehen, wenn eine Mehrheit des Hauses sagt: Nein, den Kandidaten oder die Kandidatin wähle ich nicht, von der Person fühle ich mich nicht vertreten.
Zur Person: Bärbel Bas wurde am 3. Mai 1968 in Walsum geboren. Sie schloss die Hauptschule ab, absolvierte später ein Studium zur Personalmanagement-Ökonomin. Sie trat 1988 in die SPD ein. Seit Oktober 2021 ist sie Bundestagspräsidentin.