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Interview: AOK-Chefin wirft Koalition Flickschusterei auf Kosten der Beitragszahler vor

Interview

AOK-Chefin wirft Koalition Flickschusterei auf Kosten der Beitragszahler vor

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    Carola Reimann war bis zu ihrem Wechsel an die AOK-Spitze Gesundheitsministerin in Niedersachsen. Jetzt geht sie hart mit ihrem Parteifreund Karl Lauterbach ins Gericht.
    Carola Reimann war bis zu ihrem Wechsel an die AOK-Spitze Gesundheitsministerin in Niedersachsen. Jetzt geht sie hart mit ihrem Parteifreund Karl Lauterbach ins Gericht. Foto: Henning Scheffen, imago

    Frau Reimann, Sie waren lange als SPD-Politikerin im Bundestag und dann Sozial- und Gesundheitsministerin in Niedersachsen. Jetzt müssen Sie sich als AOK-Chefin mit Ihrem Parteifreund Karl Lauterbach anlegen. Gefällt Ihnen der Seitenwechsel?

    Carola Reimann: Ich finde die verschiedenen Perspektiven ausgesprochen hilfreich. Mit dieser langjährigen Erfahrung hat man Schwierigkeiten und Hindernisse schneller im Blick. Gleichzeitig freue ich mich jeden Tag, in diesem extrem wichtigen Bereich arbeiten zu dürfen. Die AOK versichert rund 27 Millionen Menschen. Und die gesetzlichen Krankenkassen gewährleisten, dass wir alle Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung haben. Dabei ist es eine sehr große Aufgabe, Qualität und Wirtschaftlichkeit permanent zu verbessern und die Strukturen zukunftsfähig an unsere gesellschaftliche Entwicklung anzupassen. Wir haben weniger junge und mehr alte Menschen, die entsprechend mehr Behandlungen brauchen. Der medizinische Fortschritt bringt ständig Neuerungen. Deshalb macht es mir Spaß, mich in all diese Diskussionen aktiv einzubringen, auch mit dem Minister.

    Derzeit streiten Sie mit Herrn Lauterbach um das Rekorddefizit von 17 Milliarden Euro, das den Krankenkassen 2023 droht. Der Minister will den Zusatzbeitrag anheben. Was kommt damit auf die Menschen noch zu neben den hohen Energiepreisen?

    Reimann: Nach den Plänen der Bundesregierung soll das Defizit vor allem durch die Erhöhung des Zusatzbeitrags von 1,3 auf 1,6 Prozent sowie durch das Auflösen der letzten Kassenreserven und eine Darlehensaufnahme ausgeglichen werden. Wir Krankenkassen kritisieren, dass die Hauptlast damit im Wesentlichen von den Beitragszahlern und Arbeitgebern getragen werden muss. Gleichzeitig sind ja auch noch Beitragssatzanhebungen in der sozialen Pflegeversicherung, die ähnliche Finanzprobleme hat, sowie in der Arbeitslosenversicherung zum Jahreswechsel zu erwarten. Kämen an diesen Stellen auch noch rund 0,5 Prozentpunkte hinzu, dann würde das bei einem Durchschnittseinkommen von rund 4100 Euro brutto allein für Arbeitnehmer eine Zusatzbelastung von rund 200 Euro jährlich bedeuten. Das käme also zu all den Krisenbelastungen noch obendrauf. Deshalb halten wir es für unpassend, dass in der jetzigen Situation die Menschen auch noch durch höhere Kassenbeiträge belastet werden sollen.

    Was wäre die Alternative zu den Plänen der Bundesregierung, um das Finanzloch zu stopfen?

    Reimann: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung gegen das Defizit in der Gesetzlichen Krankenversicherung ist Flickschusterei und auch nicht tragfähig für die kommenden Jahre. Die Regierung doktert nur an den Symptomen rum und geht nicht an die wirklichen Ursachen. Damit drohen in Zukunft immer neue zusätzliche Belastungen. Besonders beunruhigt uns, dass die Regierung jetzt auch noch an die allerletzten Reserven der Kassen gehen will. Angesichts der sich verschlechternden Wirtschaftslage könnten einzelne Kassen dadurch schnell in finanzielle Schwierigkeiten kommen. Die Alternative zu diesem kurzatmigen Handeln ist, dass die Politik endlich die längst überfälligen Strukturreformen im Gesundheitswesen angehen muss. Nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch im Sinne einer besseren Versorgung für die Bevölkerung.

    Wo sehen Sie im Gesundheitswesen die dringendste Reformaufgabe?

    Reimann: Den allergrößten Kostenblock bei den Gesundheitsausgaben stellen die Krankenhäuser dar, hier brauchen wir ganz dringend Strukturreformen. Die jährlich rund hundert Milliarden Euro für die Krankenhäuser müssen effizienter und qualitätsorientierter ausgegeben werden. Wir reden seit vielen Jahren darüber und wissen auch, was zu tun ist: Wir brauchen mehr Konzentration durch Spezialisierung, stärkere Kooperation zwischen den Häusern und Fachdisziplinen, sowie intelligente sektorübergreifende Lösungen für die regionale Versorgung. Vor allem, um den Patientinnen und Patienten eine verbesserte Qualität anzubieten.

    Wie soll das in der Praxis aussehen, ohne dass die Versorgung in der Fläche leidet?

    Reimann: Es ist längst bekannt, dass man bei komplexeren Eingriffen besser in eine Klinik geht, die sich darauf spezialisiert hat und das häufiger macht. Ich bin immer wieder entsetzt, dass selbst bei weit verbreiteten, aber komplexen Brustkrebs-Operationen die Hälfte der Kliniken weniger als 30, ein Viertel sogar weniger als 10 Eingriffe pro Jahr vornimmt. Zu viele Kliniken mit geringer Erfahrung wagen sich an komplexe Therapien und gefährden damit die Sicherheit der Patientinnen und die Behandlungsqualität. Das ist dann Gelegenheitschirurgie, diesen Kliniken fehlen in der Regel Operationsroutine, technische Ausstattung und interdisziplinäre Teams. Hier dient eine Konzentration auf spezialisierte Kliniken den Patientinnen. In zertifizierten Zentren sind mindestens 100 Brustkrebsoperationen pro Jahr gefordert, die Überlebensvorteile sind belegt. Für die Fläche brauchen wir dagegen einen guten Mix aus Krankenhäusern für den Notfall und Gesundheitszentren, die vor allem auch ambulant arbeiten, damit die Gesundheitskompetenz in der Region auch in Zukunft erhalten bleibt.

    Diese Vorschläge werden seit vielen Jahren diskutiert und das Thema ist vor allem Ländersache, Sie selbst waren bis 2021 SPD-Gesundheitsministerin von Niedersachsen. Warum tut sich die Politik in der Praxis so schwer Reformen in der Krankenhauspolitik umzusetzen?

    Reimann: Natürlich ist es immer ein hochemotionales Thema, wenn es um die Zukunft kleinerer Krankenhäuser in der Region geht. Und zur Wahrheit gehört auch, dass die Haushalte der Länder chronisch angespannt sind, wenn es um nötige Investitionen geht. Bei der Modernisierung der Krankenhauslandschaft können Mittel aus extra aufgelegten Strukturfonds helfen. Denn in der ersten Runde geht es ja nicht darum, Geld zu sparen, sondern im Gegenteil um Strukturumbau und Qualitätsverbesserungen. Vor allem muss man alle Beteiligten davon überzeugen, dass Umwandlungen von Krankenhäusern in ambulante Gesundheitszentren ein Fortschritt sind. Das bedeutet intensive Diskussionen mit der Bevölkerung. Da ziehe ich heute noch den Hut vor vielen Bürgermeistern und Landräten. Denn überall, wo es gelungen ist, auf diese Weise zum Beispiel aus zwei oder drei Häusern eines zu machen, waren hinterher alle sehr zufrieden: Versorgung und Expertise haben sich dadurch verbessert und übrigens auch die Attraktivität, um Fachkräfte in die Region zu locken.

    Auch die jetzige Koalition hat sich eine Krankenhausreform in den Vertrag geschrieben. Glauben Sie an eine schnelle Umsetzung?

    Reimann: Es ist allerhöchste Zeit, dass diese Strukturreformen angegangen werden. Wir sind deshalb nicht gerade begeistert, dass Minister Lauterbach wieder erst eine neue Expertenrunde für eine Krankenhausreform zusammengetrommelt hat. Die notwendigen Konzepte sind längst bekannt. Wir haben kein Erkenntnisproblem. Vielmehr muss man politisch verabreden, die Probleme endlich anzugehen. Wir brauchen sofort eine Kommission aus Bund und Ländern, um eine gemeinsame Linie festzulegen. Welch großes Potenzial im ambulanten Bereich schlummert, sehen wir im internationalen Vergleich. Viele Eingriffe, die hierzulande noch im Krankenhaus stattfinden, könnten genauso gut ambulant erfolgen. Das ist in vielen Fällen sogar besser für die Patientinnen und Patienten, auch weil man sich oft zu Hause schneller erholt als im Krankenhaus. Um die Gesundheitsversorgung im ambulanten und stationären Bereich besser zu gestalten, schlagen wir auf Landesebene regionale Gremien aus Krankenhäusern, Kassen und Ärzten vor, die gemeinsam mit dem Land den ambulanten und stationären Versorgungsbedarf planen und mit festlegen, damit die Kooperation stärker und die Versorgung vor Ort passgenauer wird.

    Was erhoffen Sie sich davon für die Pflegekräfte?

    Reimann: Im europäischen Vergleich haben wir viele Ärzte und Pflegekräfte im Krankenhaus. Diese sind aber auf zu viele Krankenhäuser verteilt, deshalb ist die Belastung der Einzelnen so hoch. Durch unsere veraltete Infrastruktur und die Überkapazitäten verschleißen wir Personal. Wenn wir also besser planen, Leistungen bündeln und Ärzte und Pflegekräfte auf die guten Häuser verteilen würden, hätte das positive Effekte für die Behandlungsqualität und Berufszufriedenheit.

    Der zweitgrößte Ausgabenposten der Kassen sind die Arzneimittel. Durch die Mehrwertsteuer fließen Milliarden Euro Beitragsgelder in die Staatskasse. Was würde es Ihnen helfen, wenn der Mehrwertsteuersatz gesenkt würde?

    Reimann: Wir haben in Deutschland die seltsame Situation, dass für Tierarzneimittel der reduzierte Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent gilt, aber für Humanmedizin die vollen 19 Prozent. Die Mehrwertsteuer schlägt für die Krankenkassen voll durch, weil unsere Einnahmen auf der anderen Seite umsatzsteuerfrei sind. Mit dem reduzierten Mehrwertsteuersatz würden die gesetzlichen Krankenkassen fünf bis sechs Milliarden Euro pro Jahr sparen. Das wäre eine sehr große Entlastung. Es gibt überhaupt keine Begründung für den hohen Steuersatz, auch viele andere Staaten wenden einen reduzierten Satz an. Wir haben das immer wieder gefordert, aber jetzt wäre dies ein wichtiger Hebel, um das Defizit der Kassen dauerhaft zu reduzieren.

    Auf der einen Seite kassiert der Staat, auf der anderen zahlt er nicht: Für Hartz-IV-Empfänger werden den Kassen jedes Jahr zehn Milliarden Euro zu wenig überwiesen.

    Reimann: Die Kassen bekommen seit Jahren für die Gesundheitsausgaben der Arbeitslosengeld-II-Bezieher keinen kostendeckenden Beitrag. Und wir tun zusätzlich als AOK viel, um dieser Gruppe zu helfen, die oft auch aus gesundheitlichen Gründen arbeitslos ist. Aber es ist nicht gerecht, wenn die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler hier einseitig eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe tragen müssen. Im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, verbesserte Beiträge an die Gesetzliche Krankenversicherung zu zahlen, aber die sehen wir bis heute nicht. Die angesprochenen zehn Milliarden Euro als zusätzliche jährliche Einnahmen würden die Finanzlage der Kassen erheblich entspannen, nicht nur einmalig, sondern dauerhaft. Wenn aber diese Einnahmen weiterhin fehlen, so muss es wenigstens eine allgemeine Nullrunde bei den Ausgaben geben.

    Wie soll das funktionieren? Auch das Gesundheitswesen leidet enorm unter der Inflation und explodierenden Energiekosten.

    Reimann: Die Alternative wäre, dass das alles die Versicherten übernehmen. Es kann nicht sein, dass die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler 12 von 17 Milliarden Euro zum Stopfen des GKV-Defizits aufbringen müssen. Wir brauchen eine ausgewogene Verteilung der Lasten. Die wirtschaftliche Entwicklung ist angesichts der aktuellen Krisen schwierig abzuschätzen und birgt auch für die Kassen große Risiken. Deshalb ist es höchstproblematisch, wenn die Regierung ausgerechnet in dieser Situation den Kassen ihre letzten Finanzreserven entziehen will. Das führt die Kassen an den Rand ihrer finanziellen Stabilität. Ich sehe dies wirklich mit sehr großer Sorge.

    Wie groß ist Ihre Sorge, dass die Pandemie als andere Krise die Kassen im Herbst trifft?

    Reimann: Hier haben wir natürlich große Sorge um unsere Versicherten. Wir werden eine Impfkampagne im Herbst brauchen, insbesondere für die vulnerablen Gruppen, um den Impfschutz noch mal zu erhöhen. Schon in der Vergangenheit haben wir das unterstützt, indem wir Risikogruppen unter unseren Versicherten angeschrieben haben oder gezielte Impfangebote vor Ort gemacht haben, um möglichst alle Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Aber wir fordern auch den Bund auf, die nötigen Vorbereitungen zu treffen: Die Länder müssen alle erforderlichen Maßnahmen wie etwa eine Maskenpflicht in Innenräumen oder Homeoffice-Pflichten schnell ergreifen können, damit wir gut durch den Winter kommen und Schulschließungen vermeiden können. Das darf nur das allerletzte Mittel sein.

    Zur Person: Die 54-jährige promovierte Biotechnologin Carola Reimann führt seit Januar als Vorstandsvorsitzende den AOK-Bundesverband. Zuvor war die SPD-Politikerin seit 2017 Sozialministerin Niedersachsens, und davor seit dem Jahr 2000 SPD-Bundestagsabgeordnete und Gesundheitsexpertin.

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