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Interview: "Als Katholik im Heiligen Land leide ich mit beiden Seiten"

Interview

"Als Katholik im Heiligen Land leide ich mit beiden Seiten"

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    Nikodemus Schnabel ist Abt der Benediktinerabtei Dormitio in Jerusalem, deren Turm im Hintergrund zu sehen ist.
    Nikodemus Schnabel ist Abt der Benediktinerabtei Dormitio in Jerusalem, deren Turm im Hintergrund zu sehen ist. Foto: Andrea Krogmann, Kna

    Abt Nikodemus, was haben Sie empfunden, als Sie von den beispiellosen Terroraktionen der Hamas am 7. Oktober erfahren haben?

    Abt Nikodemus Schnabel: Ich war am 7. Oktober in Rom. Zunächst waren die Meldungen ja unklar. Doch als sich das Ausmaß der Taten offenbart hat, fühlte ich Schock und Trauer. Mein erster Gedanke war, nicht noch mehr Tote, nicht schon wieder. Das Heilige Land und die Menschen, die dort leben, sind ja schon tief verwundet und brauchen eigentlich nichts dringender als Heilung und Versöhnung.

    Wie nehmen Sie die Atmosphäre in Jerusalem wahr?

    Abt Nikodemus: Nur über den Umweg nach Jordanien gelang es mir mit Mühe, am 11. Oktober zurück nach Israel zu gelangen. Ich habe mich sehr bemüht, jeden Tag vor die Tür zu gehen, durch die Altstadt, durch die Neustadt, durch das jüdische, christliche, muslimische und armenische Viertel. Dann spürt man die Atmosphäre. Jerusalem war drei Wochen in Schockstarre, auf den Straßen waren mehr Katzen zu sehen als Menschen. Die Angst sitzt tief, die Menschen hielten Distanz, trauten sich nicht mehr über den Weg. Das hat sich jetzt etwas gelockert, die Restaurants und Läden haben wieder geöffnet. Doch der Schock sitzt tief. 

    Die Hamas-Führer hetzen ihre Anhänger mit religiösen Parolen auf. Geht es nicht viel mehr um Ideologie und Macht?

    Abt Nikodemus: Also, da sage ich immer, das sind für mich die Hooligans der Religion. Im Fußball gibt es Hooligans, denen es nicht um das Spiel geht, sondern um die „dritte Halbzeit“, um blinde Gewalt. So geht es auch den Führern der Hamas nicht darum, Gott zu suchen und ihm im Gebet näher zu sein, sondern um dualistisches, polarisierendes Schwarz-Weiß-Denken, um die Einteilung in Freund und Feind. Es ist mir aber ein Anliegen zu sagen, dass das kein Spezifikum des Islam ist. Diese Tendenzen gibt es in allen Religionen, und das sage ich jetzt bewusst als Christ. Wer bin ich, dass ich das Recht habe, mich über andere Menschen zu erheben oder in ihrer Würde zu klassifizieren?

    Die weltweite Anteilnahme für die Familien der getöteten oder entführten Israelis war groß, nun wachsen die Proteste gegen den Militäreinsatz in Gaza. Kritiker werfen Israel vor, die Grenzen des Völkerrechts zu verletzen. Wie positionieren Sie sich?

    Abt Nikodemus: Ich bin weder pro Israel noch pro Palästina, ich bin pro Mensch. Ich weiß, für diesen Satz bekomme ich in Friedenszeiten viel Zustimmung, nicht nur in Jerusalem. Doch jetzt wird diese Aussage von vielen Menschen skandalisiert. Es wird wechselseitig erwartet, dass ich mein Profil auf den sozialen Medien mit der Flagge Israels oder eben Palästinas schmücke. Ich soll nach dem Schwarz-Weiß-Prinzip festlegen, wer die Guten, und wer die Bösen sind? Und da muss ich sagen, ich bin Mönch und nicht Politiker. Als Katholik im Heiligen Land leide ich mit beiden Seiten – mit meinen jüdischen und meinen muslimischen Freunden. Am 7. Oktober sind Juden, übrigens auch Muslime, aber auch vier meiner Glaubensschwestern von der Hamas getötet worden. In Gaza zahlen die

    Hat die Zwei-Staaten-Lösung noch eine Chance? Wie diskutieren die – je nach Quelle – rund 50.000 bis 70.000 Katholiken unter den gut 180.000 Christen in Israel über Chancen, der Gewaltspirale zu entrinnen?

    Abt Nikodemus: Genau, wir diskutieren das natürlich auch. Die visionäre Lösung wäre die Ein-Staaten-Lösung – wo alle zusammenleben in Frieden und Freiheit und als gleichberechtigte Bürger. Aber der realistischere und ich glaube für die Menschen beider Seiten gerechtere Weg ist die Zwei-Staaten-Lösung.

    Was macht Ihnen Hoffnung, dass dieses Konzept nach dem 7. Oktober noch denkbar ist?

    Abt Nikodemus: Es gibt ja diese zwei großen Grundsehnsüchte, die absolut berechtigt sind. Das ist einmal die Sehnsucht der jüdischen Israelis nach Sicherheit. Ich glaube, dass kein Außenstehender erfassen kann, wie wichtig es für die Juden ist, nie mehr wehrloses Opfer zu sein, nie mehr unsicher zu sein. Diese Sehnsucht ist am 7. Oktober schwer verletzt worden. Den Enkeln darf nicht passieren, was den Großeltern passiert ist – das ist für mich die kürzeste Erklärung für das Existenzrecht Israels. Daher rührt die Sensibilität der Israelis, dass sie sich immer missverstanden fühlen. Wer uns kritisiert, sagen sie, der hat einfach nicht unsere Geschichte als jüdisches Volk im Blick – wenn wir einen Krieg verlieren, gibt es uns nicht mehr.

    Immer wieder hat Nikodemus Schnabel in den vergangenen Jahren deutsche Politiker durch Jerusalem geführt.  Das Bild zeigt ihn im Jahr 2017 mit dem früheren Außenminister Sigmar Gabriel.
    Immer wieder hat Nikodemus Schnabel in den vergangenen Jahren deutsche Politiker durch Jerusalem geführt. Das Bild zeigt ihn im Jahr 2017 mit dem früheren Außenminister Sigmar Gabriel. Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa (Archivbild)

    Was ist die Sehnsucht der Palästinenser?

    Abt Nikodemus: Freiheit und das Recht auf Selbstbestimmung. Die Palästinenser sagen, dass die Menschen, die sie kritisieren, in souveränen Staaten leben, eine eigene Währung haben und international gültige Reisepässe besitzen. Beide dieser Grundsehnsüchte der Palästinenser und der jüdischen Israelis unterschreibe ich aus vollem Herzen.

    Viele Katholiken fragen sich, warum Papst Franziskus angesichts der aktuellen Eskalationen kaum zu vernehmen ist. Sie auch?

    Abt Nikodemus: Nein. Die Situation ist sehr kompliziert. Ich bin dankbar, dass Franziskus eben nicht schwarz-weiß malt, sondern beständig zum Frieden mahnt. Das ist die Rolle des Papstes.

    Sie haben über Anfeindungen und Spuck-Attacken gegen Ihre Person in Jerusalem berichtet und über Vandalismus gegen Kirchen. Beim Überqueren des Platzes vor der Klagemauer sollten Sie sogar Ihr Kreuz ablegen. Wie schwierig ist die Situation der Christen in Israel?

    Abt Nikodemus: Ich war am Dienstag wieder in der Polizeistation, habe eine Anzeige erstattet. Diesmal wurden nationalreligiöse, jüdische Radikale von der Polizei verhaftet, weil sie am Abend Steine auf unsere Kirchenfenster geworfen haben. Natürlich gibt es Christenhass, auch wenn das jetzt nicht das Thema ist, das die Welt bewegt. Aber es bleibt eine traurige Realität. Ich lebe seit 20 Jahren hier, bin gut vernetzt und kenne so viele wunderbare Menschen. Ich habe am Nachmittag lange mit einem orthodoxen Rabbiner, überzeugter Zionist, gesprochen. Er hat gesagt: Trotz allem, lass uns weitermachen, wir brauchen Versöhnung. Aber es gibt auf beiden Seiten eben auch Scharfmacher.

    Deutschland diskutiert mit Blick auf antiisraelische Kundgebungen über einen anwachsenden Antisemitismus. Hat die Politik dieses Problem unterschätzt?

    Abt Nikodemus: Auf jeden Fall. Der jüdische Historiker Ernst Ludwig Ehrlich (1921 bis 2007) hat etwas gesagt, was sich jeder Politiker über das Bett hängen sollte: Der Antisemitismus, der in der perversen Mordmaschinerie seine Fratze gezeigt hat, sei nur möglich gewesen, weil eine theologische Wüste auf moralische Anspruchslosigkeit traf. Das gilt bis heute. Egal, ob man gläubig ist oder Atheist: Antisemitismus kann man nicht bekämpfen, wenn man keine Ahnung von Theologie hat.

    Sie haben viele deutsche Politiker durch die Heilige Stadt geführt. Wer hat Sie besonders beeindruckt?

    Abt Nikodemus: Es gab immer wieder Politiker, die mich tief beeindruckt haben. Einfach durch echtes Interesse, Neugier und Sensibilität für den Faktor Religion. Ich erinnere mich an Sigmar Gabriel, Gerd Müller oder Roderich Kiesewetter, aber auch – vielleicht für einige überraschend – an Gregor Gysi und Claudia Roth.

    Nikodemus Schnabel, 44, geboren in Stuttgart, ist Benediktinerabt in Jerusalem und damit Oberer der Abtei in der Heiligen Stadt sowie des Priorats Tabgha am See Genezareth unweit der libanesischen Grenze. Er ist in Deutschland als Autor und seine Auftritte im Fernsehen bekannt.

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