In einer Zeit großer Spannungen haben Russland und der Westen Gefangene ausgetauscht, darunter US-Amerikaner, deutsche Staatsbürger, prominente Kremlgegner und der in Deutschland inhaftierte sogenannte Tiergartenmörder. Dass die Operation, die über die türkische Hauptstadt Ankara abgewickelt wurde, bevorstand, hatte sich seit einigen Tagen angedeutet - spätestens nachdem Machthaber Alexander Lukaschenko in Belarus am Dienstag die Todesstrafe gegen den Deutschen Rico K. aufhob.
Wichtige Fragen und Antworten rund um den Deal:
Wie läuft so ein Austausch praktisch ab?
Da alle einander misstrauen, musste nach der Einigung darüber, wer freikommt, ein von den Beteiligten akzeptierter Ort für die Übergabe der Gefangenen gefunden werden. Die Türkei ist Nato-Mitglied und hatte mit Russland auch schon schwierige Phasen, beispielsweise weil Moskau und Ankara im Syrien-Konflikt über Jahre auf unterschiedlichen Seiten standen. Zuletzt war aber eine Annäherung zu erkennen. Kremlchef Wladimir Putin traf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan Anfang Juli zu einem Gespräch am Rande des Gipfels der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.
In Ankara landeten nacheinander die Flugzeuge mit den ehemaligen Gefangenen. Aufgrund der großen Zahl seien die Freigelassenen vor ihrem Weiterflug jeweils an einen gesicherten Ort gebracht worden, teilte der türkische Geheimdienst MIT mit.
Welche Interessen verfolgt Deutschland dabei?
Einerseits humanitäre Interessen, was die Gefangenen angeht, die in Russland und Belarus teils unter menschenunwürdigen Zuständen festgehalten wurden. Aber da sind auch außen- und sicherheitspolitische Interessen zu berücksichtigen. Denn klar ist, dass die USA, ein wichtiger Partner Deutschlands, hier vorankommen wollten. Auch die Solidarität mit den USA sei ein Beweggrund gewesen, erklärt Regierungssprecher Steffen Hebestreit - genau wie die Schutzverpflichtung gegenüber deutschen Staatsangehörigen.
Wer ist der sogenannte Tiergartenmörder?
Ein Russe, der laut Urteil in der Parkanlage Kleiner Tiergarten in Berlin am 23. August 2019 im Auftrag staatlicher russischer Stellen einen Georgier tschetschenischer Abstammung heimtückisch erschossen hatte. Er ließ im Prozess vor dem Berliner Kammergericht über seine Anwälte erklären, er heiße Wadim S., sei 50 Jahre alt und Bauingenieur. Verbindungen zum Geheimdienst bestritt er.
Doch das Gericht war nach rund 14 Monaten Verhandlung überzeugt: Bei dem Angeklagten handelt es sich um den am 10. August 1965 geborenen Wadim K., der als Tourist getarnt am Tag vor der Tat nach Berlin gereist ist. Spätestens im Juli 2019 hätten «staatliche Stellen der Russischen Föderation» den Entschluss gefasst, den Georgier zu liquidieren, so die Richter. Den Auftrag dazu habe Wadim K. erhalten und dafür eine neue Identität bekommen.
Die Urteilsverkündung im Dezember 2021 verfolgte Wadim K. nahezu regungslos. Auf Rechtsmittel verzichtete er. Weil der Mann als hochgefährdet galt, blieb er nicht in einem Hochsicherheitstrakt des Berliner Gefängnisses Tegel, sondern wurde mehrfach in andere Haftanstalten in Deutschland verlegt.
Welche rechtliche Grundlage hat so eine Vereinbarung in Deutschland?
Ob sich Deutschland an einem solchen Austausch beteiligt, ist in erster Linie eine politische Entscheidung. Das gilt auch für die Frage, welche Gefangenen davon profitieren. Abgesessen hat der «Tiergartenmörder» von seiner lebenslangen Freiheitsstrafe knapp fünf Jahre. Eine rechtliche Grundlage dafür, dass er Deutschland dennoch verlassen konnte, bietet Paragraf 456a der Strafprozessordnung.
Hier heißt es: «Die Vollstreckungsbehörde kann von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, einer Ersatzfreiheitsstrafe oder einer Maßregel der Besserung und Sicherung absehen, wenn der Verurteilte wegen einer anderen Tat einer ausländischen Regierung ausgeliefert, an einen internationalen Strafgerichtshof überstellt oder wenn er aus dem Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes abgeschoben, zurückgeschoben oder zurückgewiesen wird.»
Dabei gibt es einen Ermessensspielraum. Die Entscheidung trifft der Generalbundesanwalt. Allerdings hat das Bundesjustizministerium ihm gegenüber ein Weisungsrecht, von dem es in diesem Fall auch Gebrauch gemacht hat.
Gab es schon einen internationalen Gefangenenaustausch in diesem Umfang?
Die Dimension - 26 ausgetauschte Menschen und einschließlich der Türkei sieben beteiligte Staaten - ist außergewöhnlich. Russische Kommentatoren sprechen zudem von der ersten großen Freigabe politischer Gefangener durch den Kreml seit Ende des Kalten Krieges. Allerdings galt aus westlicher Sicht auch der unter deutscher Vermittlung nach zehn Jahren Straflager 2013 vorzeitig entlassene frühere Ölmanager Michail Chodorkowski als politischer Gefangener.
Die USA und Russland hatten trotz angespannter Beziehungen in der Vergangenheit immer wieder Gefangene ausgetauscht. Im Dezember 2022 und damit während des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine kam die wegen eines Drogenvergehens verurteilte US-amerikanische Basketballspielerin Brittney Griner frei. Moskau erhielt im Gegenzug den in den USA verurteilten russischen Waffenhändler Viktor But.
Hat der Zeitpunkt etwas mit dem US-Wahlkampf zu tun?
Dass in den USA in drei Monaten die Präsidentschaftswahl ansteht, ist ein wichtiger Faktor für das Timing. Die Vorbereitungen für einen Gefangenenaustausch, vor allem in dieser Größenordnung, sind aufwendig und langwierig. Monatelange Geheimgespräche gingen voraus. Putin dürfte kein Interesse daran gehabt haben, die dabei erzielten Fortschritte aufs Spiel zu setzen für den Fall, dass der Republikaner Donald Trump zurück an die Macht kommen könnte.
Trump wird zwar einige Nähe zu Putin nachgesagt, der 78-Jährige ist aber extrem unberechenbar und sprunghaft. Und er hat bislang getönt, er würde rein gar nichts anbieten im Gegenzug für eine Freilassung inhaftierter Amerikaner.
Die US-Regierung hat seit dem Amtsantritt von Präsident Joe Biden Anfang 2021 bereits die Freilassung mehrerer Amerikaner aus Russland ausgehandelt, trotz der extremen Spannungen wegen des Ukraine-Krieges. Dass nun kurz vor Bidens Abschied aus dem Amt mehrere in Russland inhaftierte Amerikaner freikommen - darunter die beiden prominentesten Gefangenen, der Reporter Evan Gershkovich und Paul Whelan - ist für ihn ein großer Erfolg und wird Teil seines politischen Vermächtnisses. Bidens Stellvertreterin Kamala Harris, die bei der Wahl im November gegen Trump antreten will, helfen die positiven Nachrichten wiederum in ihrem Wahlkampf.
Was hat Kremlchef Putin von dem Austausch?
Als ehemaliger Geheimdienstchef will Putin vor allem zeigen, dass Russen, die im Ausland im Interesse Moskaus arbeiten, mit dem Gesetz in Konflikt kommen und in Haft landen, nicht vergessen werden. «Wir lassen unsere Leute nicht im Stich», lautet ein russischer Spruch.
Der Kremlchef nahm den «Tiergartenmörder» wiederholt in Schutz. In Russland gilt Wadim K. vielen als Held, weil er aus Sicht des Machtapparats den Tod Dutzender russischer Sicherheitskräfte gerächt hat. Schon einige Russen, denen Mord und andere schwere Taten im Ausland zur Last gelegt werden, haben nach Rückkehr in ihre Heimat Ehrungen und lukrative Posten erhalten.
Zwar hat Russland nie zugegeben, einen Killer auf den Georgier angesetzt zu haben. Allerdings nannte Putin den Getöteten öffentlich einen «Banditen» und «Mörder». Das Außenministerium in Moskau kritisierte das Berliner Urteil als «absolut ungerecht, nicht objektiv». Der getötete Georgier wurde als einer «der früheren Anführer terroristischer Gruppierungen im Nordkaukasus» bezeichnet.
Welche Bedeutung hat der Austausch für die internationalen Beziehungen?
Trotz des beinahe kompletten Abbruchs der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland als Folge des Angriffskriegs gegen die Ukraine hat es auch in der Vergangenheit etwa Kontakte wie zum Beispiel bei Gefangenenaustauschen gegeben.
Der aus Russland geflohene Oppositionelle Dmitri Gudkow meinte, der Austausch sei ein erster Schritt hin zu Verhandlungen auch über einen Frieden in der Ukraine. Beide Seiten hätten den Krieg inzwischen satt. Sie hätten einander durch die Ruhe des Verhandlungsprozesses und das Dichthalten gezeigt, dass sie sich an Vereinbarungen hielten. Das sei ein wichtiger Vertrauenstest.
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