Jörg Oelsner, ein großer Mann mit kurzen grauen Haaren, fügt routiniert technische Einzelteile zu größeren Baugruppen zusammen. Im Zusammenspiel von Menschen und Maschinen im Gewusel der Backstein-Fabrikhalle in der Siemensstadt, dem alten industriellen Herzen Berlins, sitzt jeder Griff. Der Traditionskonzern, der dem Stadtteil seinen Namen gab, fertigt hier seit mehr als hundert Jahren Schaltanlagen, Kabelbäume oder Schaltröhren, die etwa in Elektrizitätswerken, S- und U-Bahnen oder ICE-Zügen zum Einsatz kommen. Erzeugnisse aus dem Mittelspannungswerk sind gefragt, auch die Energiewende trägt zu vollen Auftragsbüchern bei.
Nichts unterscheidet Oelsner auf den ersten – und auch auf jeden weiteren Blick – von den übrigen Mitarbeitern. Wie alle anderen in der Werkhalle trägt er eine rote Arbeitshose mit vielen Taschen und ein schwarzes T-Shirt. Doch der 54-jährige Monteur ist gehörlos, was im Alltag einer hoch technisierten Produktionsanlage mit Fließbändern große Herausforderungen mit sich bringt. Wenn es etwa einen Alarm gäbe, könnte er, anders als die meisten seiner Kollegen, die Sirene nicht hören.
Sieben Prozent der Siemens-Mitarbeiter in Berlin sind schwerbehindert
Oelsner ist längst nicht der Einzige unter den rund 350 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, der eine körperliche oder kognitive Einschränkung hat. Rund sieben Prozent der Belegschaft sind Schwerbehinderte, die vorgeschriebene Quote von fünf Prozent hat das Unternehmen übererfüllt, deshalb ist es mit dem Berliner Inklusionspreis ausgezeichnet worden.
"Ich bin stolz, dass ich hier ein Teil bin. Seit 22 Jahren bin ich schon im Betrieb", berichtet er – in Gebärdensprache, die eine Dolmetscherin übersetzt. Die ist im Alltag aber nicht dabei. Trotzdem funktioniere die Verständigung mit den Kollegen. Schon mit ganz normalen Handzeichen lasse sich in dem lauten Umfeld das Nötige klären, viele Kollegen hätten mit der Zeit sogar ein paar wichtige Gebärden aus der Gehörlosensprache gelernt. Dass auch mal etwas aufgeschrieben werden muss, aufs Handy oder ein Blatt Papier, komme selten vor.
An diesem Nachmittag ist Hubertus Heil ins Werk gekommen, der Bundesarbeitsminister von der SPD. Denn die Ampel-Koalition hat sich vorgenommen, den Zugang von Menschen mit Behinderung zum regulären Arbeitsmarkt zu verbessern. "Das ist eine Frage der sozialen Teilhabe, aber auch eine Frage der wirtschaftlichen Vernunft. Ein inklusiver Arbeitsmarkt ist ein Beitrag zur Fachkräftesicherung", sagt Heil. Schon bisher müssen Betriebe mit mehr als 20 Mitarbeitern fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen mit Schwerbehinderung besetzen. Ansonsten müssen sie eine Ausgleichsabgabe zahlen.
Dennoch hatten im vergangenen Jahr 60 Prozent der Unternehmen die erforderliche Quote nicht oder nur teilweise erfüllt. Künftig soll diese Ausgleichsabgabe höher ausfallen, in bestimmten Fällen verdoppelt sie sich sogar.
Ausgleichsabgabe für Unternehmen soll steigen
Rund 45.000 Betriebe in Deutschland beschäftigen überhaupt keine Menschen mit Schwerbehinderung, die meisten sind kleine oder mittlere Unternehmen. Für sie sind weiter Sonderregelungen möglich, richtig teuer wird es aber für Unternehmen mit mehr als 60 Mitarbeitern, die keine Schwerbehinderten beschäftigen.
"Es muss mehr gehen in Deutschland", fordert Heil und kündigt an, im Kampf gegen den Arbeits- und Fachkräftemangel "alle Register" zu ziehen. Junge Menschen sollen eine Ausbildungsgarantie erhalten, auch bei der Erwerbsbeteiligung von Frauen gebe es Luft nach oben. Aber auch Menschen mit Behinderung stellten für den Arbeitsmarkt noch ein "riesengroßes Potenzial" dar. Die Arbeitswelt von heute biete alle technischen Möglichkeiten, es gebe viele Fördermöglichkeiten. "Das muss sich mehr rumsprechen", sagt Heil: "In Zeiten des Arbeits- und Fachkräftemangels haben wir für Nullbeschäftige unter den Arbeitgebern null Verständnis."
Aktuell sind in Deutschland rund 166.000 Menschen mit Schwerbehinderung arbeitslos gemeldet. Ihre Arbeitslosenquote ist etwa doppelt so hoch wie die von Menschen ohne Behinderung. An der Qualifikation liegt es nicht: Anteilig haben mehr arbeitssuchende Schwerbehinderte eine abgeschlossene Berufsausbildung als Arbeitslose ohne Schwerbehinderung.
Siemens-Vorstandsmitglied: "Viel zu wenig beachtete Gruppe"
Judith Wiese, Siemens-Vorstandsmitglied für Personal und Nachhaltigkeit, sagt: "Menschen mit Behinderung sind für den ersten Arbeitsmarkt eine bisher noch viel zu wenig beachtete Gruppe. Angesichts des Fachkräftemangels müssen wir Lösungen finden, diese einfacher und flexibler ins allgemeine Arbeitsleben einbinden." Im Werk gibt es unterschiedliche Beschäftigungsmodelle – von der ganz normalen Festanstellung bis zur Kooperation mit einer Behindertenwerkstatt, die Betreuer stellt. Ein spezieller Beauftragter kümmert sich um die individuellen Belange der Schwerbehinderten. Für Gehörlose wurde etwa ein Alarmsystem eingerichtet, das mit starkem Blinklicht funktioniert. Ansonsten, das ist Jörg Oelsner wichtig, werde er im Werk behandelt wie alle anderen auch: "Wir können nur nicht hören, aber wir haben geschickte Hände."