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Inklusion: Schützen wir die Schwächsten beim Katastrophenschutz zu wenig?

Inklusion

Schützen wir die Schwächsten beim Katastrophenschutz zu wenig?

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    Inklusion ist auch in Gefahrensituationen ein wichtiges Thema. Denn Menschen mit Behinderung können sich nicht immer selbst in Sicherheit bringen. Doch sie werden nicht nur bei der Beschilderung oft nicht mitbedacht.
    Inklusion ist auch in Gefahrensituationen ein wichtiges Thema. Denn Menschen mit Behinderung können sich nicht immer selbst in Sicherheit bringen. Doch sie werden nicht nur bei der Beschilderung oft nicht mitbedacht. Foto: Michaela Axtner, Stadt Neus (Symbolbild)

    Wenn extreme Ereignisse passieren, geht oft alles ganz schnell. Innerhalb von Sekunden können Fluchtwege versperrt, die Kommunikation tot, die Atemluft knapp sein. „Rette sich, wer kann“, ist ein Befehl an die Schiffsbesatzung, wenn alle Rettungsmaßnahmen schiefgehen. Doch nicht alle können sich selbst retten. Einige Menschen mit Behinderungen etwa. In Katastrophen wie Feuer oder Flut sind sie oft die Leidtragenden. Das zeigte auch die Flut im Ahrtal. Damals kamen in einer Lebenshilfeeinrichtung zwölf Menschen mit Behinderung ums Leben. Getan hat sich für den Katastrophenschutz von Menschen mit Behinderung seitdem wenig.

    Maria-Victoria Trümper arbeitet bei der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL). Sie hat sich intensiv mit dem Thema inklusives Katastrophenmanagement auseinandergesetzt. „Das Problem ist, dass es quasi nicht existiert“, sagt sie. Das gehe aus einer neuen Studie der Uni Tübingen in Zusammenarbeit mit 'Deutschland hilft' hervor.

    Inklusiver Katastrophenschutz hängt vom Improvisationstalent Einzelner ab

    Das Fazit der Studie: zuverlässige Strukturen stünden für Menschen mit Behinderung nicht zur Verfügung. Stattdessen hänge der Katastrophenschutz für diese Gruppe stark davon ab, wo sie leben und wie gut Einzelne improvisieren können. Menschen mit Behinderung würden in Entscheidungsprozessen nicht mitbedacht, sagt Trümper. Das beginne schon in den Expertenrunden, in denen oft keine Menschen mit Behinderungen sitzen würden. 

    „Doch nur Menschen mit Behinderung sind Experten in eigener Sache und können sagen, wie man angemessen Vorkehrungen treffen kann“, erklärt Trümper. Eine hörbehinderte Person braucht etwa eine Gebärdendolmetscherin und Informationen in leichter Sprache. Die Fahrerin oder der Fahrer eines E-Rollstuhls muss dagegen den Weg kennen, der bei einer Flut nach draußen führt. Was Menschen mit Behinderung in Notsituationen benötigen, ist von Person zu Person verschieden. "Darüber haben Hilfsorganisationen eigentlich keine Kenntnisse", sagt Trümper.

    In Sinzig im Ahrtal starben 2021 zwölf Menschen mit Behinderung

    Der Hilfsorganisation 'Handicap international‘ zufolge sind Menschen mit Behinderung viermal mehr gefährdet, in extremen Wetterereignissen zu sterben. In der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 kamen zwölf Menschen mit Behinderung in einer Lebenshilfe-Einrichtung in Sinzig um. Lebenshilfe-Geschäftsführerin Jeanne Nicklas-Faust schildert, was damals passierte. Mitten in der Nacht sei die Evakuierungsanweisung gekommen. Nur eine Nachtwache war zur Stelle, zuständig für 38 Personen in zwei verschiedenen Gebäuden. „Sie hat Menschen gerettet, aber sie konnte nicht alle retten, weil sie in den anderen Gebäudeteil nicht mehr hineinkam“, erklärt Nicklas-Faust.

    Der Fall sorgte für Aufmerksamkeit, die Ermittlungen ergaben wenig. Die Lebenshilfe habe zu diesem Zeitpunkt schon lange einen Antrag für eine andere Nachtwache gestellt, der nicht bewilligt wurde, erklärt Nicklas-Faust. Stattdessen sollte es einen Anbau geben, den gab es in der Flutnacht aber noch nicht. Man habe innerhalb der Lebenshilfe die Schutzmechanismen nochmals überprüft und auch mit Verantwortlichen und dem Sozialministerium das Gespräch gesucht und nachgeschärft, sagt Nicklas-Faust. Sie sagt aber auch: „Das war eine Extremsituation.“ Die Flut kam für alle überraschend, über 130 Menschen starben. Das Mobilfunknetz war ausgefallen, Brücken wurden weggeschwemmt. 

    Extremsituationen werden häufiger

    Es sind Extremsituationen, die häufiger werden. Klimaforscher warnen schon seit Jahren vor drastischeren Wetterereignissen infolge der Klimakrise. In der Flut in Süddeutschland sind nach aktuellem Stand fünf Menschen ertrunken, bei keinem von ihnen ist eine Behinderung bekannt. Ein Lebenshilfe-Wohnheim in Mindelheim, das direkt neben der Mindel steht, musste notfallmäßig evakuiert werden, eine andere Einrichtung in Wertingen bleibt bis auf Weiteres geschlossen. Inzwischen sei der Katastrophenschutz vorausschauender gestaltet, meint Nicklas-Faust, man evakuiere früher. 

    ISL gehen die Schlussfolgerungen aus dem Unglück nicht weit genug. Passiert ist aus Trümpers Sicht außer der Erörterung der Schuldfrage nichts. Die Menschen mit Behinderung müssten einerseits bestärkt werden – etwa in Form von Trainings in den Einrichtungen –, die Hilfsorganisationen andererseits geschult werden. Es brauche Geld, es brauche Richtlinien. Barrieren müssten abgebaut werden – auch im Internet. Es gebe etwa ein Notfallregister, in das Menschen sich eintragen könnten, damit Hilfsorganisationen sie schneller lokalisieren und ihre Bedarfe erfassen könnten. "Das ist ein wichtiges Tool. Aber die Registrierung ist wiederum nicht barrierefrei", beobachtet Trümper. 

    "Wir sind viel zu spät dran"

    In Baden-Württemberg wurde vor wenigen Tagen die "Initiative Inklusive Katastrophenvorsorge Baden-Württemberg" gegründet. Sie sieht unter anderem vor, barrierefreie Evakuierungspläne zu erstellen und die Koordinierung im Katastrophenschutz zu fördern. Die Initiative begrüßt Trümper, mahnt jedoch auch andere Bundesländer zur Aktion. „Eigentlich müssten sich alle Bundesländer zusammensetzen und überlegen, wie kann man das Katastrophenmanagement inklusiv gestalten?“, sagt sie. 

    Dass so wenig passiere, hänge aber auch damit zusammen, dass die Katastrophenhilfe zum Teil „drastisch unterfinanziert“ sei. Auch in Bayern habe man in den vergangenen Jahren die Finanzierung zurückgefahren, kritisiert Trümper. Inklusion, die eigentlich als Querschnitt mitgedacht werden sollte, stünde in der Praxis an letzter Stelle. „Auch wenn Deutschland ein sehr reiches Land ist, gibt es sehr viele Barrieren und auch Menschenrechtsverletzungen“, sagt sie. Dabei sei die UN-Behindertenrechtskonvention von Deutschland schon 2009 ratifiziert worden. Bisher seien Teile davon aber sträflich vernachlässigt worden. Das müsse sich ändern – und zwar bald. „Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern eigentlich schon fünf vor eins. Wir sind viel zu spät dran.“

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