Um den Hals trägt er einen safranfarbenen Schal mit einem Lotus, dem Wahlsymbol seiner Partei. Als über der westindischen Küstenmetropole Mumbai die Sonne aufgeht, hat Mihir Kotecha seinen morgendlichen Spaziergang bereits begonnen. Er ist Politiker der hindunationalistischen Regierungspartei BJP, die seit zehn Jahren den Premierminister stellt. Kotecha genießt die letzten ruhigen Momente vor dem Wahlkampfgetöse, das schon bald die bevölkerungsreichste Stadt Indiens erfüllen wird. Bei angenehmen Temperaturen von 26 Grad lässt es sich gut mit Wählern ins Gespräch kommen. Zwei Stunden nimmt er sich dafür Zeit. Eine kleine Traube von hell gekleideten Männern begleitet ihn, Passanten grüßen.
Bisher saß der 49-Jährige für die BJP im Landesparlament von Maharashtra. Doch seine Partei hat sich viel vorgenommen: Premierminister Narendra Modi strebt eine dritte Amtszeit mit Zweidrittelmehrheit an, und dafür ist jeder Parteifreund gefragt. Bisher gelang es nur der rivalisierenden Kongresspartei, dreimal in Folge zu regieren.
In Indien wird ab dem 19. April ein neues Parlament gewählt. Die Resultate werden am 4. Juni erwartet. Zur Stimmabgabe aufgerufen sind knapp 970 Millionen Wahlberechtigte. Das Land gilt als größte Demokratie der Welt. Doch unter Modi wurde Indien auch zunehmend zu einem Land nur für die hinduistische Mehrheit.
Der Premierminister geht als Favorit in die Parlamentswahl 2024
Trotz hoher Arbeitslosigkeit und weitverbreiteter Korruption sind Modis Zustimmungswerte hoch, besonders im Norden des Landes. Der 73-jährige Premierminister gilt als Favorit. Modi wirbt für ein „neues Indien“: Bis 2047 soll aus dem Schwellenland eine entwickelte Nation werden, sagt Kotecha, der wie der Premier Wurzeln im westindischen Gujarat hat. Mumbai ist dagegen Indiens Wirtschaftsmotor, Sitz der Börse, unzähliger Firmen und Wohnort der meisten Milliardäre Asiens, hier spricht die Mittelklasse gerne über die Erfolge des Landes. Laut Weltbank ist Indiens Wachstumsrate die zweithöchste unter den G20-Ländern.
Modi habe in seiner Zeit erfolgreich Sozialprogramme für die ärmere Bevölkerung propagiert, erklärt der Politikwissenschaftler Sumit Ganguly von der Indiana University. So habe er etwa die Versorgung mit günstigen Kochgaszylindern vorangetrieben, womit er vor allem Frauen anspricht. Zum anderen warb der indische Premier für weniger Bürokratie und freie Märkte, was der wachsenden Mittelschicht entgegenkomme. „Modi hat der indischen Wirtschaft einen neuen Schwung verliehen“, sagt der Jungunternehmer Rajesh Patil aus Mumbai. „Modis Engagement für die Digitalisierung Indiens hat den Zugang zu Finanzdienstleistungen revolutioniert“, glaubt er. Dadurch könnten auch kleine Unternehmen neue Märkte und Kunden erreichen. Modis Fähigkeit, die Hoffnungen der Jugend anzusprechen, sei unvergleichlich, schwärmt der Hochschulabsolvent. Dass Narendra Modi aus bescheidenen Verhältnissen stammt, gibt jungen Indern Hoffnung, selbst wie einst er aufzusteigen. Und doch erfüllt sich das indische Märchen eben längst nicht für alle. Zwar boomt der Aktienmarkt, viele Landwirte sind aber in Not, die Inflation macht den Menschen zu schaffen. Etwa 800 Millionen Menschen leben weiterhin in Armut. Etwa 15 Prozent der Inderinnen und Inder sind laut Bundesentwicklungsministerium unterernährt. Etwa 30 Prozent der indischen Bevölkerung verfügen über keine eigene Toilette.
Narendra Modi führt Indien auf die Weltbühne
Modi verspricht „große Entscheidungen“ für die kommenden fünf Amtsjahre: „Das ist Indiens Zeit, in der von Umbruch, Entwicklung und Diversifizierung die Rede ist, und das Vertrauen der Welt in Indien wächst stetig.“ Zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt nach den USA und China soll das Land werden. Aus der Regionalmacht soll eine Weltmacht werden. Modi selbst präsentiert sich als der Mann, der Indien groß gemacht hat. Der Krieg in der Ukraine und die Aggression Chinas spielen ihm in die Hände. Indien ist wie Russland und China Teil der BRICS-Staatengruppe, gleichwohl lässt sich Modi nur zu gerne vom Westen umwerben. Geschickt inszeniert sich der Premier auf der von Krisen geprägten Weltbühne. In der Wahl seiner Partner zeigt er sich pragmatisch. Die wieder in Blöcke zerfallende Welt braucht Indien und Modi weiß das.
Beobachter befürchten allerdings auch, dass der 73-Jährige das säkulare Indien langfristig zu einem Hindu-Staat umgestalten könnte. Hinweise darauf finden sich in den Wahlprogrammen der Regierungspartei. Die Wählerschaft polarisiert sich entlang ethnisch-religiöser Linien. Freiheiten schrumpfen: Das schwedische Forschungsinstitut V-Dem bezeichnet Indien inzwischen als „Wahlautokratie“. V-Dem warnt zudem vor Zensur durch die Regierung, die Religionsfreiheit, politische Gegner und abweichende Meinungen unterdrücke. Bezeichnenderweise fand Modis inoffizieller Wahlkampfauftakt in einer hinduistischen Pilgerstadt statt, wo er einen neuen Tempel einweihte – an einem Ort, an dem zuvor jahrhundertelang eine Moschee stand.
Opposition in Indien ist schwach
Um die säkulare Idee Indiens zu verteidigen, haben sich weite Teile der Opposition zur „Indian National Developmental Inclusive Alliance“, kurz INDIA, zusammengeschlossen. Doch die sieht sich in ihrer Arbeit behindert. Gegen Oppositionspolitiker wird wegen Finanzkriminalität ermittelt. Die Kongresspartei beklagt eingefrorene Konten durch die Steuerbehörde, der Regierungschef der Hauptstadt Delhi sitzt wegen Korruptionsvorwürfen in Untersuchungshaft, nun auch die südindische Politikerin Kalvakuntla Kavitha, die Tochter eines Ex-Ministerpräsidenten ist. Modis Versprechen sei, dass alle Oppositionsführer nach der Verkündung der Wahlergebnisse im Gefängnis sitzen, sagt Mamata Banerjee, die Regierungschefin des Bundesstaates Westbengalen aus der Partei TMC, die sich verbale Schlagabtäusche mit dem mächtigsten Mann Indiens liefert. Doch ohnehin sind die Parteien für viele Inder keine Alternative an der Wahlurne.