Sie ist beliebter als der Kanzler, schillernder Talkshow-Dauergast, Ikone der Linkspartei und zugleich deren größte Bedrohung: Sahra Wagenknecht. Die charismatische Ostdeutsche, die lange als Kommunistin aufgetreten war, redet so geschliffen wie klassenkämpferisch. Von sich reden macht sie aber vor allem dadurch, dass sie immer lauter darüber nachdenkt, ihrer Partei den Rücken zu kehren. Die hatte ja ihr Ehemann, Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine, 2007 mitgegründet. Führt sie bald ihre eigene Truppe ins politische Feld, links, aber migrationskritisch? Würde das die AfD schwächen oder ihr sogar Koalitionsoptionen bieten?
Sicher ist: Beim Stichwort Linkspartei denken viele Menschen an Wagenknecht und ganz wenige an Janine Wissler oder Martin Schirdewan, die aktuellen Vorsitzenden. Und alles spricht dafür, dass die Linke ohne Wagenknecht schweren Zeiten entgegenginge.
Ex-Linken-Chef Ernst mit schweren Vorwürfen an seine Nachfolger
Die 54-Jährige mit den streng nach hinten frisierten schwarzen Haaren hat derzeit in Partei oder Fraktion kein Amt, dennoch landete sie im ARD-Deutschlandtrend auf Platz vier der beliebtesten Politiker, vor Regierungschef Olaf Scholz (SPD). Ex-Linken-Boss Klaus Ernst, einer ihrer engsten Vertrauten, sagte unserer Redaktion: "Bis Ende des Jahres wird sich Sahra Wagenknecht entscheiden, ob sie eine eigene Partei gründet. Wenn sie es tut, dann bin ich dabei."
Die Verantwortung für die drohende Spaltung sieht er bei der Linken-Spitze, "die mit unserem ursprünglichen Ziel, den abhängig Beschäftigten eine politische Stimme zu geben, nichts mehr zu tun hat". Die Hauptanliegen vieler Parteifreunde, "der Antirassismus und die Flüchtlingspolitik" seien ehrenwert. Doch der im Zeichen des Klimaschutzes geführte "Kampf gegen die Autoproduktion" richte sich gegen die Beschäftigten. Endgültig den Bogen überspannt habe die Parteiführung mit der Nominierung von Carola Rackete, die als Kapitänin eines Flüchtlingsrettungsschiffs bekannt geworden war, zur Spitzenkandidatin für die Europawahl. Auch andere Linken-Politiker stehen in den Startlöchern, haben bekundet, sich auf Wagenknechts Seite zu schlagen.
Um bei Wahlen antreten zu dürfen, muss eine neue Partei in der Fläche organisiert sein. Für den Bundestag sind die Hürden besonders hoch – so könnte Wagenknecht es zuerst bei der Europawahl im Juni 2024 probieren. Doch mit der politischen Kärrnerarbeit tut sie sich schwer. Schon einmal ist ihr Versuch, sich an die Spitze einer linken Sammlungsbewegung zu stellen, kläglich gescheitert.
"Aufstehen" wurde zur Niederlage Wagenknechts
Unter dem Namen "Aufstehen" rief sie 2018 eine überparteiliche Initiative ins Leben, die nach dem Vorbild der linkspopulistischen und EU-skeptischen französischen Bewegung "La France Insoumise" ("Unbeugsames Frankreich") Mehrheiten ermöglichen sollte. Simone Lange, Ex-Bewerberin um den SPD-Vorsitz, gehörte neben Wagenknecht zu den Gründern. Die Organisation der schon nach wenigen Monaten erlahmten Initiative habe bei Wagenknecht gelegen, sagte sie unserer Redaktion. Ein partei- und gesellschaftsübergreifendes Bündnis zu initiieren, habe sie damals grundsätzlich richtig gefunden, so Lange. Genau diesem Gedanken widerspräche die Gründung einer eigenen Partei durch Wagenknecht: "Ich finde es jedenfalls wegen der ohnehin zersplitterten Parteienlandschaft nicht den richtigen Weg. Angesichts des derzeitigen Rechtsrucks wäre es vielmehr notwendig gewesen, die bestehenden linken Kräfte zusammenzuhalten."
Auch Intellektuelle wie Politikwissenschaftler Peter Brandt hatten die Bewegung unterstützt. Der älteste Sohn des ersten SPD-Kanzlers Willy Brandt sagte unserer Redaktion: "'Aufstehen' war aus dem Gefühl heraus entstanden, dass die drei Parteien links der Mitte nicht vermögen, dem wachsenden Unmut über die zunehmende soziale Ungleichheit Ausdruck zu verleihen." Dies treffe auch heute noch zu. Gescheitert sei "Aufstehen" damals an "grundlegenden Strukturproblemen". Einer möglichen neuen Wagenknecht-Partei beizutreten, komme für ihn als SPD-Mitglied nie infrage, sagte er. Deren Aussichten könne er nicht beurteilen. Sicher sei aber: "Um eine Partei zu gründen, bedarf es nicht nur charismatischer Führungsfiguren, zu denen Sahra Wagenknecht zweifellos zählt. Sondern auch einer organisatorischen Struktur und Leuten, die bereit sind, sie auszufüllen."
Der Linken-Vorstand will die Rebellin nur noch loswerden. Im Falle einer Abspaltung aber würden die bleibenden Bundestagsabgeordneten ihren Fraktionsstatus und damit wichtige Rechte verlieren. Eine Rest-Linke hätte es schwer, wieder ins Parlament zu kommen. Auch auf Landesebene würde sich eine Reihe von Politikern einer möglichen Neugründung anschließen – gerade im Osten.
Dort eckt etwa Wagenknechts großes Verständnis für Russlands Präsident Putin deutlich weniger an als im Westen. Trommelt sie für Frieden in der Ukraine, blendet sie das Recht des ukrainischen Volkes auf Selbstbestimmung aus und verweist auf angebliche "legitime Sicherheitsinteressen" Russlands – ähnlich wie manche AfD-Politiker. In der Sendung "Anne Will" (ARD) geriet sie deshalb heftig mit Historiker Karl Schlögel aneinander. Der warf ihr vor: "Sie sind die putinsche Stimme in Deutschland zusammen mit der AfD."
Was bedeuten die Pläne für Ostdeutschland?
In den neuen Ländern, wo die AfD bereits stark ist, könnte eine weitere Partei künftige Regierungsbildungen weiter erschweren. Alle Versuche, die Linke wieder zu versöhnen, etwa durch Gregor Gysi, eine andere Parteilegende, scheiterten. Zu gnadenlos hatte Wagenknecht in ihrem Buch "Die Selbstgerechten" mit der Linken abgerechnet. Der vermeintlich dominierenden "Lifestyle-Linken" wirft sie vor, nicht mehr die Interessen der "kleinen Leute" zu vertreten, sondern unbegrenzter Migration und exzessivem Klimaschutz das Wort zu reden. Wer mögliche Risiken von Zuwanderung ausblende, treibe die Menschen geradezu der rechtspopulistischen Konkurrenz in die Arme, schreibt sie.
Was die möglichen Erfolgschancen betrifft, gehen die Ansichten weit auseinander. So sieht Meinungsforscher Hermann Binkert (Insa) für eine Wagenknecht-Partei ein Potenzial von bis zu 25 Prozent. Sie würde demnach "ganz direkt vor allem AfD und Linke schwächen, die bis zu jeden Zweiten ihrer aktuellen Wähler verlieren könnte". Manfred Güllner, Chef des Instituts Forsa, sagte unserer Redaktion dagegen: "Sahra Wagenknecht überschätzt sich. Realistisch betrachtet ist sie nicht die Polit-Ikone, als die sie oft dargestellt wird."
Umfragen zu den Chancen möglicher Neu-Parteien ergäben ein verzerrtes Bild. Selbst zur "Horst-Schlämmer-Partei" aus einem Film des Komikers Hape Kerkeling von 2009 hätten 18 Prozent der Bundesbürger gesagt, dass sie sich vorstellen können, diese zu wählen. "Das sind natürlich nur vage Aussagen", sagt Güllner. Er glaubt: "Wagenknecht hätte es schwer, überhaupt über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen." In der heutigen Parteienlandschaft gebe es schlichtweg für sie keinen Platz: "Wo will sie sich denn dazwischenmogeln? Das Thema Sozialleistungen haben schon die Linke und der linke Teil der SPD besetzt. Und das Feld der Migrationskritik hat die AfD besetzt. Radikaler als die kann Wagenknecht nicht sein."