Noch vor wenigen Tagen hatte sich Samir Kabulow, Russlands Sondergesandter für Afghanistan-Fragen, gelassen gegeben. „Wir fühlen uns in Sicherheit“, sagte er angesichts des immer weiteren Vormarsches der Taliban in Afghanistan. Da hatten europäische Staaten und die USA ihre Diplomaten bereits nach und nach aus Kabul evakuiert. Russland aber, das eine zwiespältige Haltung zu den Taliban pflegt, gab sich standhaft – bis Kabulow an diesem Montag erklärte, dass nun auch Teile der Belegschaft der russischen Botschaft aus Afghanistan abgezogen werden würden.
Man wolle „nicht zu viel Präsenz“ zeigen, sagte er in Moskau und betonte noch einmal, dass mit Vertretern der Taliban gesprochen werde. Am Dienstag soll offenbar der russische Botschafter in Kabul den „Sicherheitskoordinator“ der Taliban treffen. Danach werde entschieden, ob Moskau die Taliban als Regierung anerkennt. Das hänge vom „Verhalten“ der Rebellen ab, sagte Kabulow.
Afghanistan-Experte Serenko spricht von "schizophrener" russischer Diplomatie
„Schizophrenie der modernen russischen Diplomatie“, nennt der Moskauer Afghanistan-Experte, Andrej Serenko, diese Haltung. Einerseits stehen die Taliban in Russland auf der Liste der terroristischen Organisationen und sind damit verboten – wie der Islamische Staat und auch der Antikorruptionsfonds des inhaftierten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny. Eigentlich ist damit jedes Interagieren mit solch einer Gruppierung eine mögliche Straftat. Andererseits hatte der russische Außenminister Sergej Lawrow zuletzt im Juli eine Taliban-Delegation in Moskau empfangen. Russland, sich als Rechtsnachfolger der Sowjetunion seiner Rolle und seiner Fehler in Afghanistan bewusst, gab sich als Vermittler. Die offensichtliche Widersprüchlichkeit, die es damit einging, schob die Regierung beiseite.
Hatte Moskau seinen Einsatz in Syrien nicht damit begründet, gegen Terroristen vorzugehen? Nun standen Taliban in Moskau vor Mikrofonen und erklärten, wie wichtig für sie Menschenrechte seien. Seht her, die radikalen Islamisten hätten sich geändert, frohlockten daraufhin Russlands Propagandisten, obwohl auch ihnen bekannt sein dürfte, dass auf die Worte der Taliban kein Verlass ist.
Doch in diesen Tagen ist die Häme über das Versagen der USA in Afghanistan allgegenwärtig. Die staatsnahen, russischen Kommentatoren ergötzen sich an dem Szenario geradezu. Eine gefährliche Haltung, da auch Russland – trotz der Besuche der Gotteskrieger in Moskau – auf der Feindesliste der Taliban steht. Einige russische Beobachter fürchten, dass der radikale Islamismus, gegen den Russland in seinen nordkaukasischen Republiken und an den Grenzen zu Zentralasien seit Jahren hart vorgeht, plötzlich zu einer Art neuer Mode unter Muslimen im Land werden könnte.
Die Schadenfreude wegen des Scheiterns der USA ist groß
Die Schadenfreude über das Scheitern der Amerikaner als weltpolitische Ordnungsmacht übertüncht vorerst die Sorgen vor neuem Terror im Land. Dass diese Befürchtungen da sind, zeigen die Militärmanöver, die Russland Anfang August zusammen mit Tadschikistan und Usbekistan an der Grenze zu Afghanistan abhielt.
Tadschikistan hatte Russland im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit bereits im Juli um Hilfe gebeten, da das Land im Zuge des Taliban-Vormarsches von über die Grenze fliehenden afghanischen Regierungstruppen regelrecht überrannt wurde. Russland, das in Tadschikistan eine Militärpräsenz mit 7000 Mann unterhält und zusammen mit den Tadschiken für die Sicherung der mehr als 1000 Kilometer langen tadschikisch-afghanischen Grenze zuständig ist, schickte zusätzliches Personal wie auch Militärtechnik ins Land. Die Angst vor religiösem Extremismus an russischen Grenzen ist vor allem unter Experten groß. „Wir erleben gerade die Geburt eines neuen dschihadistischen Trends. Und keine afghanische Grenze wird diese Dschihadisten aufhalten“, sagte der Afghanistan-Experte Serenko.