Lisa Paus probt die Rolle rückwärts, um die Kindergrundsicherung zu retten und womöglich noch viel mehr. Für die Grünen-Politikerin geht es jetzt nicht nur um ihr wichtigstes Projekt, sondern ums politische Überleben, letztlich sogar um den Fortbestand der Regierungskoalition. Denn die FDP läuft Sturm gegen die eigentlich abgesegneten Pläne, seit die Bundesfamilienministerin vor Ostern in einem Interview gesagt hatte, für die Auszahlung der Sozialleistung seien 5000 zusätzliche Stellen nötig.
Zerknirscht räumt Paus ein, dass das wohl zu hoch gegriffen sei. Dem Medienhaus Table sagte sie, die Zahlen seien vom November 2023, Entlastungen an anderen Stellen wie den Jobcentern noch nicht vollständig berücksichtigt gewesen. „Es ist eine unsinnige Debatte, die wir in den vergangenen zwei Wochen geführt haben in diesem Land, deswegen haben wir sie gemeinsam klar beendet“, so die 55-Jährige. Nun gehe es in den parlamentarischen Verhandlungen darum, Schnittstellen zwischen den Behörden zu optimieren. Da gebe es noch große Potenziale. „Deswegen ist es sehr realistisch, dass wir es hinbekommen, mit weniger als 5000 Stellen auszukommen“, glaubt Paus.
Paus’ jüngstes Manöver, mit dem sie faktisch schwere eigene Versäumnisse zugibt, zeigt, wie eng es für sie inzwischen wird. Ob für Koalitionspartner FDP die Debatte wirklich beendet ist, bleibt offen. Immer wahrscheinlicher scheint, dass es mit der neben der Einführung des Bürgergelds wichtigsten Sozialreform der Ampel in dieser Legislaturperiode nichts mehr wird. Dabei hatte es schon so ausgesehen, als habe Paus das erbitterte Ringen für sich entschieden.
Familienministerin Lisa Paus: Entspannt im Täubchenthal
Ende Februar, die grüne Bundestagsfraktion trifft sich in Leipzig zur Klausur und am Abend zum Feiern im alternativen Veranstaltungszentrum Täubchenthal. Lisa Paus lehnt entspannt an der Theke, ein Glas Weißwein in der Hand. Sie ist guter Dinge, die Gespräche mit Parteifreundinnen und Journalisten drehen sich um die Zukunft, etwa das Demokratiefördergesetz, das sie jetzt gegen den Widerstand der FDP durchsetzen will. Bei der Kindergrundsicherung scheint ihr das ja schon gelungen, im Grundsatz hatte sich die Ampel vor Weihnachten geeinigt, die wichtigsten Sozialleistungen für Kinder zu einer einzigen Leistung zusammenzufassen. Ihre heftige Auseinandersetzung mit FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner, die die gesamte Koalition zum Wackeln gebracht hatte, wirkt in der vermeintlichen Rückschau wie der Teig, aus dem politische Anekdoten gebacken werden.
Doch es braucht nur das Interview mit den 5000 Stellen und der Streit ist heftiger als je zuvor zurück. Auch die SPD wird ungeduldig, fordert massive Nachbesserungen am Entwurf von Paus. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte seine grüne Ministerin bereits im Sommer zu Änderungen ermahnt, als diese im Streit mit Finanzminister Christian Lindner (FDP) das Wachstumschancengesetz im Kabinett blockierte und damit eine Regierungskrise heraufbeschwor. Selbst in den eigenen Reihen nimmt das Kopfschütteln über Paus seit Monaten zu. Wer sich bei grünen Abgeordneten umhört, bekommt hinter vorgehaltener Hand zu hören, die Familienministerin drohe das wichtigste soziale Projekt der Partei zu „versemmeln“ – durch eigene Fehler, wohlgemerkt, „ungeschickte Argumente, taktische Verhandlungsfehler, schlecht vorbereitete Gesetzentwürfe“.
Ist Paus in Wirklichkeit eine ausgebuffte Strategin?
Es gibt auch Parteifreunde, die Paus verteidigen. Abwarten, sagen sie, am Ende werde Bilanz gezogen. Was bei „Lisa“ so stümperhaft wirke, sei in Wirklichkeit ganz große Verhandlungskunst. Wer viel vom Partner wolle, müsse eben mit einer noch höheren Forderung einsteigen, um sich dann scheinbar herunterhandeln zu lassen. Doch die Erzählung, im Familienministerium an der Glinkastraße sitze eine Top-Strategin, die recht behalten werde, überzeugt immer weniger Grüne. Denn nach Lage der Dinge ist Paus im Milliarden-Poker mit Lindner krachend gescheitert. Dessen FDP sieht die Kindergrundsicherung hauptsächlich als ein Projekt der Digitalisierung und Entbürokratisierung, höchstens zwei Milliarden wollte er dafür ausgeben. Eine Ausweitung von Transferleistungen lehnt er ab. „Fitter, nicht fetter“ müsse der Sozialstaat werden, heißt es bei den Liberalen.
Paus aber geht mit der Forderung von zwölf Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung, die sie noch dazu nicht belastbar begründen kann, an den Start. Am Ende steht auch keine Einigung irgendwo in der Mitte, auf fünf, sechs oder sieben Milliarden, mit der sie spekuliert haben mag. Die Grüne muss sich mit 2,4 Milliarden Euro begnügen, ist blamiert. Und die wohl wichtigste Regel erfolgreicher Verhandlungen, den Partner nicht vor den Kopf zu stoßen, bricht Paus quasi am laufenden Band. Wenn sie in Interviews immer wieder davon spricht, mit der Kindergrundsicherung werde endlich eine „Bringschuld“ des Staates geschaffen, trifft das die FDP tief im liberalen Mark.
Tiefe Kluft zwischen Paus und Finanzminister Lindner
Die Schärfe der Auseinandersetzung mag auch mit der Herkunftsgeschichte der Hauptkontrahenten zu tun haben. Paus, die aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie stammt, hält mehr Geld für die schärfste Waffe gegen Kinderarmut. Vor ihrer Ernennung zur Familienministerin hatte sie sich vor allem als Finanzpolitikerin hervorgetan. Was viele nicht wissen: Bei Christian Lindner ist es genau umgekehrt. Der Finanzminister hat lange Erfahrung in der Familienpolitik, war neun Jahre im nordrhein-westfälischen Landtag bei der FDP dafür zuständig. Nach der Trennung seiner Eltern bei seiner Mutter aufgewachsen, ist er fest überzeugt, dass die Stärkung der Eigenverantwortung der Schlüssel im Kampf gegen Armut ist. Auch dass von der Kindergrundsicherung hauptsächlich ausländische Familien mit profitieren würden, gehört für Lindner zur Debatte. Im heraufziehenden Bundestagswahlkampf macht Paus den mit der Fünf-Prozent-Hürde kämpfenden Liberalen geradezu ein Geschenk: An den Kanten der ungeschliffenen Kindergrundsicherungspläne lässt sich vorzüglich das eigene Profil schärfen.