Die Beliebtheit im Keller, ein drohendes Debakel bei den Wahlen in Ostdeutschland im Herbst – gute Nachrichten sind im Augenblick dünn gesät bei der SPD. Doch es gibt sie, oder vielmehr: Es gäbe sie. Wenn sie etwa die Bundestagsfraktion, die sich gerade in Berlin zur Jahresauftaktklausur trifft, nur zu deuten wüsste. Umfragen nämlich sehen einen Sozialdemokraten in der Gunst der Bevölkerung ganz vorn. Und räumen diesem trotz allem Ampel-Frust sogar eine reelle Chance ein, bei den Bundestagswahlen im kommenden Jahr das Kanzleramt für die SPD zu retten.
Doch diese Lichtblicke sind in einem ganz, ganz dicken Problem verpackt: Der Genosse, auf dem die Hoffnungen so vieler Bürger ruhen, ist nicht etwa Olaf Scholz. Der Kanzler hat sich beim Versuch, die Fehler seiner Regierung bei der Haushaltsführung auszubügeln, nur noch tiefer in die Tinte manövriert und jetzt auch noch Proteste wütender Bauern an der Backe. Es ist Boris Pistorius, dem die Herzen der Deutschen zufliegen. Wie ein Gegenmodell zu Scholz, der oft in vielen Worten wenig sagt, zupackend, unverstellt, ehrlich und ein wenig rau – so wirkt der Verteidigungsminister bei öffentlichen Auftritten, die er freilich spärlich setzt.
Boris Pistorius hat bei der Truppe eine Mammutaufgabe
Seine Umfrage-Erfolge, die Spekulationen, er könne gar schon bald Scholz ablösen, kommentiert der 63-Jährige nicht, konzentriert sich lieber voll auf seine Aufgabe. Die ist gewaltig: Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine muss er die in den Jahrzehnten zuvor kaputtgesparte Bundeswehr wieder flott machen. Seit er vor einem knappen Jahr, aus dem niedersächsischen Innenministerium kommend, die glücklose Christine Lambrecht ablöste, musste er erste Rückschläge hinnehmen. Funkgeräte – vor seiner Amtszeit bestellt – passten etwa nicht in Panzer und Laster der Truppe, was ihn wahnsinnig ärgerte. Und ob er sein selbst gestecktes Ziel erreichen kann, schon 2027 eine Bundeswehrbrigade mit rund 5000 Kräften dauerhaft in Litauen zu stationieren, ist offen. Fakten allein erklären den Popularitäts-Höhenflug des Juristen also nur zum Teil. Da ist mehr, manches davon schwer zu greifen.
Den SPD-Verteidigungspolitiker Christoph Schmid etwa fasziniert Pistorius' Art, mit den Soldatinnen und Soldaten umzugehen. "Er ist extrem zugewandt, er kann eben auch Marktplatz", sagt er über den einstigen Osnabrücker Oberbürgermeister. Pistorius habe nicht nur selbst "gedient", kenne Rangabzeichen und Kasernen-Sprech, er verstehe es auch, "für die richtigen Bilder" zu sorgen. Kampfstiefel und Tarnjacke wirkten an ihm nicht wie eine Verkleidung, egal ob im Wüstensand des Sahel oder in eiskalten baltischen Nadelwäldern. Die goldverzierten Stöckelschuhe, in denen Amtsvorgängerin Christine Lambrecht in Mali aus dem Militärflieger stieg, hatten dagegen in der Truppe Irritationen ausgelöst.
Was die Opposition über Boris Pistorius und Kollegen tuschelt
Die Frage, warum gerade Pistorius so beliebt ist, beschäftigt auch die Opposition. Darüber tuscheln am Rande einer Bundestagssitzung Ende des alten Jahres Verteidigungsexperte Thomas Silberhorn (CSU) und CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen. Der Blick der beiden Konservativen schweift von Pistorius über die Riege der anderen SPD-Minister, bleibt am zerzausten Haar von Gesundheitsminister Karl Lauterbach hängen, am mürrischen Blick von Innenressortchefin Nancy Faeser. Dann sagt Silberhorn: "Er ist einfach der normalste von denen, spricht eine klare Sprache und konzentriert sich auf seine Aufgaben". Silberhorn, der die Anekdote erzählt, kennt als früherer Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium die Eigenheiten des Bendlerblocks genau. Pistorius mache dort vieles richtig, was ihm fehle, sei der Rückhalt in der eigenen Fraktion. Silberhorn: "In der SPD glauben viele, 'Der hat ja hundert Milliarden Euro Sondervermögen bekommen, jetzt muss mal gut sein.'" Wenn Pistorius sage, dass Deutschland "kriegstüchtig" werden müsse, komme das zwar in der Truppe gut an, in der eigenen Partei riskiere er damit seinen Rückhalt.
FDP und Gründe fordern Durchsetzungsstärke gegenüber Olaf Scholz
FDP-Wehrexperte Marcus Faber sieht Pistorius am Scheideweg. Bei der Reorganisation seines Hauses habe dieser an den richtigen Stellen begonnen, Doppelstrukturen abzubauen und Prozesse zu straffen. "Ob er den Mut hat, diesen Prozess konsequent fortzusetzen, wird sich erst noch zeigen", so Faber. Zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wünsche er sich zudem "deutlichere Worte von ihm zu den militärischen Notwendigkeiten für den Sieg der Überfallenen."
Ähnlich sieht das der Grünen-Politiker Anton Hofreiter: "Boris Pistorius erkennt sehr realistisch, dass jetzt eine stärkere Unterstützung für die Ukraine notwendig wäre, einschließlich der Lieferung von Taurus-Raketen." Doch bei Kanzler Olaf Scholz könne er sich damit nicht durchsetzen, sagt Hofreiter und fügt an: "Er versucht es leider auch nicht stark genug."
Viel Zuspruch bei der Truppe und in der Bevölkerung, aber nicht in der SPD: Das ist auch die entscheidende Ungereimtheit von Kanzlertausch-Spekulationen, die zuerst in einer italienischen Zeitung laut wurden. Da heißt es, es sei der mächtige linke Parteiflügel, der Scholz ausbooten und durch Pistorius ersetzen wolle. Doch der Mann mit der stählernen Rhetorik ist im linken Spektrum noch viel unpopulärer als der Wachsweich-Kanzler. Um Regierungschef zu werden, müsste Pistorius sich zudem gegen mögliche Mitbewerber durchsetzen, Parteichef Lars Klingbeil oder Arbeitsminister Hubertus Heil werden eigene Ambitionen nachgesagt, längerfristig auch dem jungen, linken Generalsekretär Kevin Kühnert. Wer am Ende vorn sein will, muss strategisch planen, seine Bataillone in Stellung bringen. Pistorius macht dazu derzeit keine erkennbaren Anstalten. Doch was wäre, wenn sich das Elend verschärfte, wenn ihn die SPD in großer Einigkeit bitten würde, den Karren aus dem Dreck zu ziehen? Dann, und erst dann, so glauben nicht wenige, würde sich die oft gepriesene Loyalität des Boris Pistorius auch gegenüber seiner Partei zeigen.