Zweieinhalb Minuten hat Heidi Reichinnek gebraucht, um groß rauszukommen. Als die 36-Jährige an das Rednerpult des Bundestages tritt, braucht sie keine Aufwärmzeit. Sie bebt vor Anspannung. „Herr Merz“, legt sie los und pocht mit ihrem Zeigefinger auf das Pult. „Aller politischen Differenzen zum Trotz hätte ich mir niemals vorstellen können, dass eine christlich-demokratische Partei, eine christlich-demokratische Partei, diesen Dammbruch vollzieht und mit Rechtsextremen paktiert“, schreit Reichinnek mit sich überschlagender Stimme in den Plenarsaal des Reichstages. CDU-Chef Merz ruft irgendetwas zurück, aber Reichinnek lässt sich nicht abbringen. „Sie haben diese Mehrheiten gezielt gesucht und das ist das verdammte Problem und sie verstehen es bis jetzt noch nicht.“ Der Zeigefinger fährt wieder auf das Holz hinab – poch, poch, poch.

Mit diesem Auftritt am Freitag vor einer Woche hat es die Linken-Politikerin geschafft, in den sozialen Medien eine kleine Berühmtheit zu werden. 30 Millionen Nutzer haben laut ihrer Partei das Video aus dem Bundestag gesehen. Ihre Gefolgschaft auf Instagram verdoppelt sich durch diese verbale Explosion, auch auf der Videoplattform Tiktok geht es steil nach oben. Reichinnek gelingt als Spitzenkandidatin das, was den anderen Parteien außer der AfD sonst schwerfällt. Sie erreicht mit ihrer Politik die mehrheitlich jüngeren Wähler auf Social Media. „Sie ist die Tiktok-Queen“, schwärmt Parteichef Jan van Aken seither über die Frau aus Sachsen-Anhalt.
Linke rein und Wagenknecht raus aus dem Bundestag?
Reichinneks furioser Angriff auf Friedrich Merz hat der Partei, die alle totgesagt hatten, Hoffnung eingeimpft. Ausgezehrt von jahrelangen Flügelkämpfen, hässlichen persönlichen Fehden und in der Existenz bedroht durch ihre einstige Ikone Sahra Wagenknecht, die mit einem neuen Bündnis von Sieg zu Sieg eilte. Die Linke, das war doch die Partei für Ost-Rentner, alte SED-Mitglieder und verstrahlte Studenten, garniert mit Gysi-Späßchen. Doch jetzt, zwei Wochen vor der Wahl, steht sie sogar vor der Wagenknecht-Partei bei fünf Prozent, im ZDF-Politbarometer sogar bei sechs Prozent. Ausgerechnet die Linke könnte das Wunder schaffen, während Wagenknechts BSW den sicher geglaubten Einzug in den Bundestag knapp verpasst.
Reichinnek ist eine der beiden Gruppen-Vorsitzenden im Parlament. Sie bekam den Posten, nachdem die Linke durch die Abspaltung von Wagenknecht die Fraktion beerdigen musste. Weder Gysi noch alte Kämpfer wie Dietmar Bartsch oder Bernd Riexinger übernahmen, sondern die in Berlin unbekannte Nachwuchspolitikerin, die aus der Jugendhilfe kam. Nachwuchshoffnung wollte seinerzeit keiner sagen, denn es gab keine Hoffnung mehr. Das hat sich geändert.
Allein in den vergangenen zwei Wochen sind nach Zahlen der Parteispitze 15.000 Genossen in die Linke eingetreten, zu den Wahlveranstaltungen strömen die Leute. Und dann kommt Reichinnek und nutzt das riskante Merz-Manöver aus. Das Feuer des Antifaschismus hat auch die SPD aufscheinen lassen, aber es entfaltete nicht die Kraft der zweieinhalb Minuten kurzen Wutrede. „Die war nicht vorgeschrieben, die kam von Herzen“, sagt Reichinnek. Sie selbst beschreibt sich als jemanden, der viel Energie, viel Leidenschaft hat. „Friedrich Merz raubt mir diese Energie, wenn ich ehrlich bin.“ Nicht nur für Bundeskanzler Olaf Scholz ist Merz der Wunschgegner, auch für die Linke.
Heidi Reichinnek: „Niemand muss Milliardär sein“
Zurückhaltung ist ihre Sache nicht. Sie ist angriffslustig, oft ironisch, manchmal sarkastisch. Dieser Ton gilt auf den sozialen Plattformen als authentisch. „Ich finde, niemand muss Milliardär sein und da helfen wir ganz gerne“, sagt sie in einem ihrer zahllosen Videos, die auf Tiktok stehen.
Milliardäre abzuschaffen, das ist eine Forderung der Linken. Vom Gespenst des Klassenkampfs ist aber nicht viel geblieben. Die Linke vertritt eine soziale Marktwirtschaft, in der das Soziale großgeschrieben wird. Sie fordert etwa ein massives staatliches Investitionsprogramm, für das die Schuldenbremse ausgesetzt werden soll und einen Deckel für die unaufhörlich steigenden Mieten. Sie will außerdem ihren Ruf als Kümmererpartei zurück. Sie hat einen Mietwucherrechner entwickelt, der automatisiert Wuchermieten an Wohnungsämter schickt.
Nur noch als Fernziel wird die Verstaatlichung von Grund und Boden gefordert, aber das wird im Wahlkampf nicht an die große Glocke gehängt. Reichinneks linken Unterarm ziert dennoch ein tätowiertes Porträt von Rosa Luxemburg, der ewigen Lichtgestalt aller Sozialisten. Sie nennt ihn ihren politischen Arm. Darüber, Richtung Schulter, das Gesicht einer jungen Frau mit Gasmaske. Als Studentin erlebte sie die Aufstände des arabischen Frühlings in Kairo. Rote Heidi will sie nicht genannt werden. „Heidi ist in Ordnung, Frau Reichinnek ist auch okay.“
Heidi Reichinnek: Das war ein furioser Auftritt, hab ich sehr bewundert und sehr genossen. Ein wenig Impulsivität kann diesem Parlament nicht schaden. Da tut es mir fast leid, dass ich mich schon fürs "Team Robert" entschieden habe – sosnt würde ich mich für diese Frau entscheiden. Sie kämpft mit Herzblut und Temperament, finde ich klasse.
Team Robert....manchen kann man nicht mehr helfen...
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