Warum Deutschland sich mit der digitalen Krankenakte so schwertut
Seit Jahrzehnten kommt die Digitalisierung des Gesundheitssystems nicht voran. Experten beklagen Pfusch auf Kosten der Patienten und Beitragszahler. Deutschland verliert den Anschluss in der medizinischen Forschung.
Wer dieser Tage krank zum Arzt geht, dem kann es passieren, dass er am Ende statt dem gewohnten kleinen rosa Zettel im Postkartenformat gleich mehrere große Seiten im DIN-A4-Format als Rezept mitbekommt. Auf den Ausdrucken stehen die verschriebenen Medikamente samt sogenannten „QR-Codes“: eine Art grafischer, fälschungssicherer Computerfingerabdruck zum Einscannen in der Apotheke wie an der Supermarktkasse.
Das sogenannte E-Rezept ist Teil der Digitalisierung des Gesundheitswesens, und wurde von der einstigen SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt schon vor über 20 Jahren angekündigt. Doch die neue Zettelwirtschaft zeigt, dass auch ein halbes Jahrhundert nach Erfindung des Internets die Deutschen damit Probleme haben.
Chef der Techniker Krankenkasse: Deutsches Gesundheitswesen bei digitaler Vernetzung "katastrophal aufgestellt"
„Das elektronische Rezept, das jetzt eingeführt wird, wird in der Realität zu 99,7 Prozent ausgedruckt“, berichtet Jens Baas, Chef der größten deutschen Krankenversicherung, der Techniker Krankenkasse. „Keine Patientin und kein Patient empfindet eine solche Art Digitalisierung als Fortschritt.“ Baas, gelernter Chirurg und später Unternehmensberater, gilt als einer der entschiedensten Verfechter der Digitalisierung im Gesundheitswesen, seit er vor zehn Jahren den Chefposten der TK übernahm.
Doch seine Diagnose fällt besorgniserregend aus: „Man muss ja leider sagen: In Deutschland ist das Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen noch ein größeres Trauerspiel als in anderen Bereichen“, erklärt Baas. „Im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern ist das deutsche Gesundheitswesen bei der digitalen Vernetzung katastrophal aufgestellt.“
Doch der 55-jährige Digitalisierungsverfechter kann diesem Krankheitszustand immer noch eine positive Seite abgewinnen: „Weil wir hier so schlecht sind, ist das Potenzial für Verbesserungen nicht nur finanziell riesengroß, sondern vor allem auch für die Versorgungsqualität“, betont Baas.
Spielt in der Praxis kaum eine Rolle: Seit Sommer 2021 gibt es die digitale Akte
An großen Zielen fehlte es der deutschen Gesundheitspolitik in der Digitalisierung noch nie: Schon 1996 testeten erste deutsche Kliniken die „elektronische Patientenakte“, 2001 versprach Ministerin Ulla Schmidt eine bundesweite Einführung zusammen mit der elektronischen Gesundheitskarte. Doch eine breit geschürte „Angst vor dem gläsernen Patienten“ ließ weitere 20 Jahre ins Land ziehen.
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit wurde die digitale Akte im Sommer 2021 tatsächlich eingeführt. Doch sie spielt weder in der Praxis noch in den Praxen eine Rolle: Denn Krankenversicherte müssen sie aktiv bei den Kassen beantragen und die allerwenigsten Arztpraxen nutzen das System. „Eine digitale Akte, mit der die Praxen nicht vernetzt sind, nutzt nicht viel“, sagt TK-Chef Baas.
Vermeidung von mehrmaligen Untersuchungen: Digitalisierung könnte Milliarden sparen
Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat angekündigt, mit seiner neuen Digitalisierungsstrategie einen weiteren Anlauf zu starten: Demnach soll die elektronische Patientenakte nicht wie bislang nach ausdrücklicher Zustimmung, sondern für alle Versicherten eingeführt werden, die nicht ausdrücklich widersprechen. In Fachkreisen wird dieses Modell „Opt-out“ genannt.
Sowohl Krankenkassen als auch der Deutsche Ärztetag fordern eine rasche Umsetzung des Modells. Die Kassen erhoffen sich, dass in der Behandlungskette nicht immer wieder Untersuchungen wiederholt werden, obwohl die Informationen eigentlich vorliegen. Es geht dabei um die Patientensicherheit und Milliardenkosten. Und Mediziner erwarten große Fortschritte für die medizinische Forschung, wenn sie anonyme Patientendaten auswerten können, welche Therapien und Medikamente erfolgreicher wirken als andere.
Komplexes System macht den Forschungsstandort Deutschland unattraktiv
„Die Digitalisierung ist für die medizinische Forschung extrem wichtig“, sagte Techniker-Krankenkassenchef Baas. „Wir sehen, dass die meisten Fortschritte in der Medizin auf Basis von Datenanalysen erzielt werden.“ In China würden unglaubliche Mengen an Geld in Künstliche Intelligenz investiert. „In Deutschland liegen viele Daten nicht zeitnah vor“, sagt Baas. „Als Krankenkassen bekommen wir Abrechnungsdaten oft erst neun Monate nach dem Praxisbesuch. Damit kann man kaum Wissenschaft betreiben, zumindest nicht in Situationen wie der Pandemie.“
Außerdem lägen die Gesundheitsdaten in vielen getrennten Silos, die man nicht zusammenführen und gemeinsam nutzen dürfe, erklärt Baas. „Das macht die medizinische Forschung in Deutschland sehr schwierig und viele Wissenschaftler wandern in die USA oder andere Länder ab“, warnt der TK-Chef. „Die vielen Einschränkungen bei der Nutzung von Daten sind für Deutschland ein echter Standortnachteil in der Medizin. Wir brauchen dringend ein Gesetz, wie wir künftig mit Forschungsdaten umgehen, wenn wir international nicht den Anschluss verlieren wollen.“
Immer noch Hard- statt Software in den Praxen: Kleine Datenrouter müssen oft ausgetauscht werden
Einst war Deutschland Pionier bei Gesundheitsregistern, heute werden sie zu Jahrhundertprojekten: Das weltweit erste Krebsregister wurde 1926, vor dem Zweiten Weltkrieg, in Hamburg eingeführt. Seit Jahrzehnten dringen Experten und die Deutsche Krebshilfe darauf, die verschiedenen Krebsregister der Bundesländer zu einem länderübergreifenden Register mit gemeinsamen wissenschaftlichen und technischen Standards zusammenzuführen. Inzwischen wird das Jahr 2024 angepeilt.
Deutsche Sonderwege in der Technik zerren dabei auch im Kleinen an den Nerven der Ärzteschaft. In fast allen Arztpraxen müssen Spezialgeräte zur Datenübermittlung nach nur fünf Jahren bereits wieder komplett ausgetauscht werden. Die sogenannten „Konnektoren“, eine Art Datenrouter, müssen wegen eines abgelaufenen Sicherheitszertifikats gegen neue Geräte ersetzt werden. Die Kosten belaufen sich nach Expertenschätzungen auf einen dreistelligen Millionenbetrag. Kritiker sprechen von einem „Totalschaden der Telematik-Infrastruktur“ und verweisen darauf, dass andere Branchen auf sichere Software- statt Hardware-Lösungen setzen.
Trotz elektronischer Möglichkeit: Meist wird gedruckte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt
„Der Großteil der Ärzteschaft ist offen für die Digitalisierung des Gesundheitswesens“, betont Thomas Kriedel vom Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. „Voraussetzung ist aber, dass die Technik durchdacht, anwenderorientiert und ausgereift ist.“ Hier habe aber bereits die Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung „eAU“ zu einer großen Ernüchterung geführt, sagt Kriedel.
„Der Start lief in den wenigsten Praxen rund. Hier zeigt sich ganz klar, dass Anwendungen nicht erst im Praxisbetrieb erprobt werden dürfen.“ Ärztinnen und Ärzte klagten über unausgereifte und unzuverlässige Technik, hoch komplizierte Installationen, für die teilweise mehrere IT-Spezialisten erforderlich waren und lange Datenübertragungszeiten - und vor allem keinerlei Mehrwert, da jedem Versicherten weiterhin ein gedrucktes Exemplar ausgestellt werde.
Techniker-Chef Jens Baas: "Unser System fällt zunehmend hinter anderen zurück"
„Wenn die Digitalisierung die Versorgung verbessert und den Aufwand in den Praxen reduziert, ist die digitale Transformation ein Selbstläufer“, sagt Kriedel. „Bislang hat sie den Aufwand in den Praxen deutlich erhöht.“ Kriedel hofft, dass die Ärzte bei der vom Bund ausgerufenen Digitalisierungsstrategie nun, wie angekündigt, stärker in die Entwicklung eingebunden werden.
„Andere Länder sind bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen viel weiter, unser System fällt zunehmend hinter anderen zurück,“, warnt TK-Chef Baas. Ein Grund dafür sei, dass der Leidensdruck im Gesundheitssystem nicht so hoch wie in anderen Ländern sei. „Die Tatsache, dass es relativ gut funktioniert, verhindert den Durchbruch für die Digitalisierung. Viele Beteiligte leben sehr gut davon, wie unser System bislang funktioniert, obwohl viel gejammert wird. Deshalb haben einige gar kein Interesse an starken Veränderungen.“
Deutschland müsse Datenschutzmentalität überdenken
Zudem gebe es bis heute ein Mentalitätsproblem in Politik und Gesellschaft. „Natürlich haben wir das große Problem, dass wir irgendwann einmal den deutschen Sonderweg eingeschlagen haben, Datenschutz über alles zu stellen“, sagt Baas. Gesundheitsdaten seien zweifellos hochsensibel. „Aber wir machen gar keine Abwägung mehr zwischen Chancen und Risiken, sondern hören auf, sobald irgendwo ein kleines Datenschutzrisiko auftaucht“, kritisiert der TK-Chef. „Natürlich birgt die Digitalisierung Risiken, aber die muss man eben gut managen.“ Hier seien andere Länder viel pragmatischer.
„Das Wichtigste, was wir von anderen Ländern lernen können, ist deshalb, unsere Datenschutzmentalität zu überdenken“, betont Baas. „Als Arzt weiß man: Jede Behandlung ist eine Abwägung zwischen Risiko und Chancen“, sagt der frühere Transplantationsmediziner. „Es gibt keine risikofreie ärztliche Behandlung. Wir brauchen einen sehr hohen Datenschutz bei den Gesundheitsdaten, aber er muss am Ende auch praktikabel sein. Der Datenschutz darf nicht pauschal über dem Gesundheitsschutz stehen. Diese Debatte müssen wir in Deutschland führen, wenn wir bei der Digitalisierung endlich vorankommen wollen.“
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Das Problem ist doch immer, unabhängig von der medizinischen Zielsetzung, dass immer(!) Millionen an Euro für irgendwelche angebliche Fachentwicklungen ausgegeben werden, welche jedoch zu keiner vernünftigen Lösung bzw. Entwicklung kommen (können?). Gleich verhielt es sich mit der Covid-19-App; Millionen für die Entwicklung ausgegeben, Zielsetzung wässrig bis verschwommen, bis heute nicht fertig und viel zu umfangreich und langwierig programmiert! Genau so soll es immer wieder passieren. Forschungs-/Entwicklungsgelder werden eingesackt, bis auf St. Nimmerlein wird geforscht und programmiert, Zweck und Ende ungewiss. Nur die Gelder scheinen immer zu fließen. Lobbyarbeit par excellence, wie so oft bei medizinischen Programmen und erforderlicher Hardware. Hie gehört das gesamte System auf den Prüfstand! Warum kann die Politik nicht einen Forderungskatalog erstellen, die Wirtschaft erstellt ein Angebot (Vorschlag, Muster, etc.) einschließlich einer Musterlösung und die optimale Lösung wird übernommen. Einmalige absehbare Kosten wären der Vorteil und nicht zu vergessen, man kann das fertige Produkt lauffähig begutachten. Andere Länder praktizieren dies und siehe da, es funktioniert seit langem in und für die Praxis.
Ein weiteres Hauptproblem ist, dass Deutschland immer meint, alles besser als andere machen zu können, anstatt einfach mal ein in anderen Ländern funktionierendes System eins zu eins zu übernehmen. Dies gilt im Übrigen nicht nur für den Gesundheitssektor sondern für viele Bereiche unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Aber wir Deutschen meinen immer, dass wir alles noch viel besser als andere können. Dieser vermeintliche Perfektionismus kostet Zeit und zig Milliarden Euro finanzielle Mittel, die in letzter Konsequenz der Steuer- bzw. Beitragszahler zu tragen hat. Und der Lobbyismus trägt zudem maßgeblich zu der Misere bei.
>>Aber wir Deutschen meinen immer, dass wir alles noch viel besser als andere können.<<
Ihr Kommentar ist das beste Beispiel dafür.
Im Gesundheitswesen generell ist Deutschland ein Entwicklungsland. Ein Trauerspiel.