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Hamas-Angriff auf Israel: Angehörige bangen um Schicksal von mehr als 100 Entführten

Hamas-Angriff auf Israel

Angehörige bangen um Schicksal von mehr als 100 Entführten

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    Die Kämpfe zwischen israelischen Soldaten und islamistischen Hamas-Kämpfern gehen im Grenzgebiet zum Gazastreifen weiter.
    Die Kämpfe zwischen israelischen Soldaten und islamistischen Hamas-Kämpfern gehen im Grenzgebiet zum Gazastreifen weiter. Foto: Ilia Yefimovich, dpa

    Die Frau mit den grauen Haaren und der Brille im freundlichen Gesicht sitzt auf dem Beifahrersitz eines Golfwägelchens. Um die Beine hat sie eine bunte Decke gelegt. Der Mann hinter ihr hält ein Maschinengewehr in die Luft, andere filmen die unwirkliche Szenerie hier mitten auf den staubigen Wegen von Gaza. Die Frau, deren Bild gerade durch die sozialen Medien in aller Welt verbreitet wird, ist Yaffa Adar. 85 Jahre alt, sie lebt in einem Kibbuz nahe der Grenze zum Gazastreifen und sie ist eine der mehr als hundert Geiseln, die die Terrororganisation Hamas inzwischen auf israelischem Gebiet genommen hat.

    Kleine Kinder, Mütter, Soldaten, alte Frauen wie Adar. Den Terroristen dienen sie als Trophäen, sie werden öffentlich vorgeführt. In den Videos lässt sich auch erahnen, was sie vor Ort durchmachen müssen. Eine Frau wird etwa mit einem großen Blutfleck an ihrer Hose zwischen den Beinen gewaltsam in ein Auto gesteckt. Auch die greise Yaffa Adar wird von ihren Geiselnehmern vor der Kamera immer wieder gedemütigt. „Meine Großmutter, die den Kibbuz mit beiden Händen gründete, die an den Zionismus glaubte, die dieses Land liebte, das sie im Stich ließ, wurde entführt.

    Orly Louk, Tante der 22-jährigen Shani Louk, hofft auf ein Lebenszeichen ihrer Nichte.
    Orly Louk, Tante der 22-jährigen Shani Louk, hofft auf ein Lebenszeichen ihrer Nichte. Foto: David Pichler, dpa

    "Ich weiß nicht, ob man sie nach Gaza verschleppt hat"

    Niemand redet mit uns und niemand weiß etwas über sie“, schreibt Adars Enkelin Adva auf Twitter. Ihre Großmutter sei auf Medikamente angewiesen. Die Angst der israelischen Bevölkerung mischt sich mit Wut. „Wir bekommen hier keine Informationen, nur aus den Videos, und die Situation ist nicht gut“, sagt auch Orly Louk, Tante der 22-jährigen Shani

    Verwandte warten auch Tage nach dem entsetzlichen Überfall weiter auf Lebenszeichen ihrer Liebsten. Einige nutzen Twitter und Facebook, um einen öffentlichen Hilferuf auszusenden, andere wenden sich an die Medien, in der Hoffnung auf Unterstützung. Es ist der Griff nach einem Strohhalm. „Ich weiß nicht, ob meine Tochter irgendwo blutend liegt, ich weiß nicht, ob man sie nach Gaza verschleppt hat, ich weiß nicht, ob sie leidet“, sagt Ahuwa Maizel.

    Das letzte Mal als sie mit ihrer Tochter sprach, sei am Samstagmorgen um kurz nach 7 Uhr gewesen, die junge Frau war auf einem Festival, das von der Hamas in ein blutiges Schlachtfeld verwandelt wurde. Mehr als 250 Menschen starben, andere wurden gekidnappt. „Falls sie jemand gefangen hält, bitte, bitte, bleibt menschlich. Wir haben alle die gleiche DNA, wir sind alles nur Menschen“, sagt Maizel unter Tränen. Die Ungewissheit sei nicht auszuhalten. Unschuldige Menschen dürfen nicht zu politischen Zwecken missbraucht werden. „Lasst das keinen neuen Holocaust werden.“ 

    Die Straßen in Israel sind wie leer gefegt

    Der Schock legt sich wie Blei über das gesamte Land. Die Straßen der eigentlich durch Krisen gestählten Städte sind leer, die Menschen, die sich ihr Leben eingerichtet haben trotz aller Bedrohungen, sind wie gelähmt, flüchten in Bunker. Eine Fahrt in einen der Vororte von Tel Aviv, die normalerweise 45 Minuten dauert, schafft man seit Sonntag in knapp 30 Minuten. Einkaufszentren sind geschlossen, die Schulen schalten auf Online-Unterricht um, Cafés wirken wie verwaist. Einige Menschen verlassen das Land, doch es braucht Glück, einen Platz im Flieger zu ergattern. Seit Montag fliegen nur wenige Airlines den Ben-Gurion-Flughafen an. Die meisten Flüge sind deshalb schnell ausgebucht. 

    Die Horrormeldungen, die fast stündlich, manchmal minütlich auf den Handys aufblinken, lassen viele das Vertrauen in die Institutionen verlieren, an die sie bisher fest geglaubt haben. Dazu gehören die Geheimdienste und die Armee. Ähnlich wie nach dem Überraschungsangriff mehrerer arabischer Staaten auf Israel im Oktober 1973 im Jom Kippur-Krieg dürfte es nach dem Ende der heißen Phase des Konflikts viele Fragen an die Regierung geben. Doch gerade konzentriert sich Premierminister Benjamin Netanjahu auf die militärischen Möglichkeiten, schon jetzt droht eine Eskalation im Norden des Landes. 300.000 Zivilisten wurden mobilisiert, der Gazastreifen hermetisch abgeriegelt. Unterdessen springen Privatorganisationen als Anker inmitten des Chaos ein, sammeln Nahrungsmittel und bringen sie zu den traumatisierten Bewohnern jener Ortschaften nahe dem Gazastreifen. Aus der Grenzstadt Sderot wird von aufgetürmten Leichen berichtet. Zwar hat der Staat inzwischen eine Notfallnummer eingerichtet, unter der Angehörige nach Vermissten forschen können. Die meisten Versuche aber verlaufen erfolglos. 

    Hamas fordert von Israel Gefangenenaustausch

    Die Hamas nutzt ihre Geiseln inzwischen für Forderungen nach einem Gefangenenaustausch. Sie verlange die Freilassung von 36 inhaftierten Palästinenserinnen in Israel für die Übergabe von älteren entführten Israelinnen, sagte ein Hamas-Sprecher. Wie viele israelische Frauen ausgetauscht werden sollen, sagte er nicht. Der Golfstaat Katar vermittelt demnach. Aktuell sind rund 4500 Palästinenser laut der Menschenrechtsorganisation B’Tselem in israelischen Gefängnissen, darunter 183 aus dem Gazastreifen. 2011 hatte Israel sich zuletzt mit der Hamas auf einen Gefangentausch eingelassen. Im Gegenzug für die Freilassung eines verschleppten israelischer Soldaten wurden mehr als 1000 palästinensische Gefangene freigelassen. 

    Heldengeschichten, die in Israel kursieren, untermauern die Tragik der vergangenen Tage nur noch. Eine israelische Frau, die zusammen mit ihrem Ehemann 20 Stunden lang in ihrem Haus als Geisel festgehalten wurde, berichtete den Medien am Montag, dass sie sich Zeit verschaffen konnte, indem sie den Terroristen servierte und mit ihnen scherzte. „Sie richteten eine Waffe auf mich und hielten mir eine Granate an den Kopf", sagte sie in einem Interview. „Ich sagte einem, dass ich Insulin spritzen müsse und versuchte, sie von der Tatsache abzulenken, dass ich Kinder habe, die Polizisten sind... Ich habe ihnen Getränke angeboten: Cola Zero, Wasser." (mit dpa)

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