Verpisst euch, ihr Nazis“, schreit ein Mitglied der jüdischen Gemeinde. Alexander Raue blickt kurz auf. Er hält einen Blumenstrauß in der linken Hand. Weiße Rosen, etwas Grün. Raue will den Strauß an der Mauer der Synagoge niederlegen, die tags zuvor ein Neonazi in die Hölle auf Erden verwandeln wollte. In der schmalen braunen Eingangstür zum Hof der Synagoge in der Humboldtstraße klaffen Einschusslöcher. Raue ist Chef der AfD-Fraktion im Stadtrat von Halle an der Saale. Seiner Partei wird vorgeworfen, die Saat gelegt zu haben, die der Attentäter aufgehen lassen wollte. Eine Saat des Hasses.
„Wir sind vollkommen erschüttert, dass solche Szenen in unserer Stadt geschehen. Bisher war das undenkbar“, sagt Raue auf dem Bürgersteig gegenüber des Gotteshauses. Er will die Blumen niederlegen, aber die Polizei lässt ihn nicht durch. Wenige Minuten zuvor ist der Bundespräsident eingetroffen, es werden weitere Spitzenpolitiker folgen. „Es darf sich niemand berufen fühlen, wegen unserer Argumente Anschläge gegen andere Menschen zu verüben“, sagt Raue. Er gehört zu den Erstunterzeichnern der Positionsbestimmung des rechtsnationalen Flügels der AfD.
Raue hat kurzes graues Haar, trägt Jeans, eine Lederjacke und ein weißes Hemd. Der Bundespräsident trägt Schwarz. Frank-Walter Steinmeier hält wie der AfD-Politiker weiße Blumen in seinen Händen. Rosen und Lilien zu einem Gesteck gebunden. Eingewoben darin ist ein Band in den deutschen Farben – Schwarz-Rot-Gold. Steinmeier geht auf die kleine braune Tür mit den Einschusslöchern zu und legt links daneben das Gesteck ab. Vor die Mauer aus verwitterten ockergelben und roten Ziegeln. Sein Gesicht, seine Haltung – alles strahlt tiefe Traurigkeit und Entsetzen aus.
So erlebte eine Frau in der Synagoge den Anschlag in Halle
Nach einem Moment des Innehaltens geht der Präsident in die Synagoge. Ein bis an die Zähne bewaffneter 27-Jähriger wollte dort die Gemeinde auslöschen. Aus Frust, weil er die Pforte nicht überwinden konnte, erschoss er eine zufällig vorbeikommende Frau von hinten, eine 40-Jährige aus Halle. Seine Tat übertrug er im Internet.
Christina Feist stammt aus Wien und lebt eigentlich in Berlin. „Fern des Großstadttrubels“ wollte die 29-Jährige mit gut 50 anderen Gläubigen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur in Halle begehen. Sie befand sich also in der Synagoge, als der Wahnsinn begann. Nun steht sie keine 24 Stunden später vor dem Gebäude und erzählt, dass sie auf dem Bildschirm der Überwachungskamera sehen konnte, wie der Täter die Frau erschoss. Mehr als 15 Minuten habe sie mit einigen anderen auf den Monitor gestarrt; sie konnten ja nicht raus, es war zu gefährlich. Und sie wussten nicht, ob die Frau draußen vor der Tür noch lebte. Dann kam die Polizei.
Wie sie sich gefühlt hat drinnen in der Synagoge? Es habe keine Panik geherrscht, erzählt Feist. Aber die Anspannung war natürlich groß. Am Ende seien sie dankbar gewesen, dass sie noch leben. Und dann sagt Christina Feist noch: „Wir haben gesungen, wir haben gebetet.“
Synagoge in Halle war zu Jom Kippur nicht zusätzlich geschützt
Das Wetter, das an diesem Vormittag über der Stadt liegt, ist zu schön für diese Tat. Die Sonne scheint mild auf Grablichter und niedergelegte Blumen herab. Der Wind schiebt einige Wolkenschleier über den blauen Himmel. Nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernt geht das Leben scheinbar seinen Gang. Leute lassen sich die Haare schneiden, Bauarbeiter ziehen Häuser hoch. Es sind kleine Dinge, die verraten, dass die Stadt Schauplatz eines monströsen Verbrechens geworden ist, das noch viel schlimmer hätte enden sollen.
Die Zeitungsverkäuferin berichtet, dass sie heute mehr Exemplare verkaufe. „Anschlag auf Halle“ lautet die Schlagzeile des örtlichen Blattes. Die Mitgliederwerber der Gewerkschaft Verdi haben einen schweren Stand. „Es sind viel weniger Menschen auf der Straße“, sagen sie. Bei Zigarettenpausen oder dem kurzen Plausch auf der Straße erzählen sich die Hallenser, wie und wo sie die Stunden der Angst verbracht haben. Als der Hauptbahnhof gesperrt war, als es hieß, man solle die Öffentlichkeit meiden.
„Ich wohne da um die Ecke, ich war zu Hause“, sagt Fatu Bode. Der kräftige Mann aus Togo wollte vor die Tür, um zu schauen, was los ist. „Aber da war schon alles abgesperrt. Da bin ich wieder hoch und habe den Fernseher angemacht und geschaut, was passiert.“ Angst hat er am Tag danach nicht mehr. Sagt er zumindest und lächelt. „Die Polizei hier hilft uns immer.“
Im Gegensatz zu anderen großen Städten Deutschlands hatte die Polizei hier verzichtet, zu Jom Kippur Beamte vor der Synagoge zu postieren. Nun ist die Kritik daran gewaltig. Das sei „skandalös“, sagt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden. „Diese Fahrlässigkeit hat sich jetzt bitter gerächt.“ Vielleicht hätten die Beamten den Schützen stoppen können, der am jüdischen Versöhnungstag das Böse unter die Menschen bringen wollte.
AfD-Mann Raue wartet in der schmalen Humboldtstraße noch immer darauf, seine Blumen niederlegen zu können. Samuel Gitman tut das auch. Der Musikstudent kommt aus Israel, seine Familie hat den Massenmord der Nationalsozialisten an den Juden überlebt. „Ich bin erschüttert. Ich musste einfach die halbe Stunde aus Leipzig herfahren, um meine Solidarität zu zeigen“, erzählt er.
Seit acht Jahren lebt er in Leipzig. Seit kurzem kellnert er in einem jüdischen Café. „Jetzt kommt die Angst. Ich weiß ja nicht, wer da durch die Tür kommt.“ Gitman wirkt nicht zart besaitet, hat in seiner Heimat „drei oder vier Kriege erlebt“, wie er sagt. Der Israeli spürt, dass seit dem Aufstieg der AfD das Klima gegen Minderheiten unerbittlicher geworden ist. „Der ganz große Teil der Deutschen steht an der Seite der Juden“, sagt er. Daran will er glauben.
Das zweite Opfer von Halle stirbt in einem Dönerimbiss
Stephan B., der unter erdrückendem Tatverdacht steht, wollte diesen Glauben an eine tolerante Gesellschaft zerstören. Doch bald streikten einige seiner Waffen. Vor allem: Die Tür der Synagoge hielt seiner Gewalt stand. Zur Überraschung eines Gemeindemitglieds, das den Täter ebenfalls via Überwachungsmonitor beobachtete. „Die Tür habe ich selbst gebaut“, erzählt der Mann dem Stern. „Die ist geschützt, allerdings nur denkmalgeschützt, nichts Besonderes.“ Und: Dass die Tür abgeschlossen war, sei reiner Zufall gewesen.
Schließlich fuhr der Rechts-Terrorist in seinem Wagen davon. Mit dem Auto ist es nur eine Minute bis zu einem Dönerladen in der Ludwig-Wucherer-Straße im Paulusviertel. Die Gegend ist zu einem belebten Viertel mit Cafés und Ateliers geworden. Sie steht sinnbildlich für die Entwicklung der ganzen Stadt. Die profitierte in den vergangenen Jahren auch vom Boom der Nachbarstadt Leipzig. Wegen steigender Mietpreise dort wohnen inzwischen viele Studierende in Halle. Seit kurzem hat die Kommune mit ihren gut 230 000 Einwohnern die Landeshauptstadt Magdeburg eingeholt. Doch auch die rechtsextreme Szene ist in den Straßen präsent.
„Kiez-Döner“ steht auf grünem Hintergrund am Schaufenster. Ein großes gelbes Lachgesicht aus dem Whatsapp-Katalog grinst von der Scheibe. Hier tötete Stephan B. sein zweites Opfer, einen 20-jährigen Mann aus Merseburg. Ein Handy-Video zeigt, wie der Täter mit einer Schrotflinte das Feuer eröffnet. Wolken von Schießpulver steigen auf. Mitten in der Altbaupracht aus der Gründerzeit.
Die Ermittler gehen weiter davon aus, dass Stephan B. ein Einzeltäter ist – auch wenn noch geprüft wird, ob es zumindest Mitwisser gab und inwiefern er in ein mögliches rechtsextremes Netzwerk eingebunden ist. Wer ist der Mann, der zwei Menschen ermordet und auf seiner Flucht mindestens zwei weitere mit Schüssen verletzt hat – eine 40 Jahre alte Frau und ihren 41-jährigen Ehemann?
Stephan B. war der Polizei nicht bekannt
B. wurde 1992 geboren. In der Nähe der Lutherstadt Eisleben, keine Stunde vom Ort des Anschlags entfernt, wuchs er auf. Sein Vater sagt der Bild, sein Sohn sei ein Eigenbrötler: „Er war weder mit sich noch mit der Welt im Reinen, gab immer allen anderen die Schuld.“ Die Zeitung berichtet weiter, B. habe in Halle Chemie studiert, aber nach zwei Semestern abgebrochen. Zuletzt habe er als Rundfunktechniker gearbeitet.
Von Verstößen gegen das Gesetz wussten die Behörden bis jetzt nichts, weder in seiner Jugend noch als Erwachsener. Kein Eintrag als Rechtsextremist, kein Ladendiebstahl, nichts. Bis B. loszog, um massenhaft Juden zu ermorden, scheint er der Polizei nie aufgefallen zu sein. Kann niemand bemerkt haben, woran er wohl seit Monaten arbeitete?
Mit vier Kilo Sprengstoff, selbst gebastelten Schnellfeuergewehren und Schrotflinten fuhr B. zum Ziel seines Anschlags. So zusammengewürfelt wie sein Waffenarsenal ist auch B.s Weltbild. In einem elf Seiten langen „Manifest“, das er vor der Tat veröffentlichte, legt er seine Gedanken dar – auf Englisch, um möglichst viel Beachtung zu finden. Der Text liest sich stellenweise wie die Anleitung zu einem Computerspiel, lakonisch-lapidar geht es um „Ziele“, „Ergebnisse“, „Bonus“. Gemeint ist: Massenmord.
In dem Dokument wimmelt es vor antisemitischen Formulierungen. B. spricht beispielsweise von einer „zionistisch besetzten Regierung“ – ein klassischer judenfeindlicher Begriff aus der rechtsextremen Szene. Eigentlich habe er zunächst eine Moschee oder ein Antifa-Zentrum attackieren wollen, schreibt B., habe sich aber dann entschieden, doch lieber so viele Juden wie möglich zu töten.
Wie es in Sicherheitskreisen heißt, erlitt Stephan B. bei seiner Festnahme auf einer Bundesstraße bei Zeitz Schussverletzungen am Hals. Er sei in zwei Krankenhäusern behandelt worden. Am Donnerstag bringt ihn ein Hubschrauber zum Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Generalbundesanwalt Peter Frank beantragt Haftbefehl wegen zweifachen Mordes und versuchten Mordes in neun Fällen. Er spricht von „Terror“. Der Haftbefehl wird nach Informationen des Südwestrundfunksam Donnerstag erlassen.
Im Dönerladen in der Ludwig-Wucherer-Straße in Halle hängen am Tag nach dem Horror noch die erkalteten Fleischspieße im Grill. Das Licht des Kühlschranks brennt. Er ist gut gefüllt mit Getränken. Die Polizei hat das rot-weiße Flatterband an den Mülltonnen festgemacht. Die drei Langnese-Sonnenschirme sind zusammengefaltet.
Der Bundespräsident und Hallenser mit feuchten Augen legen auch hier Blumen nieder. Viele Rosen, Lilien, Sonnenblumen. Grablichter brennen und eine Mutter tröstet ihre kleine Tochter, die nicht versteht, aber zu fühlen scheint, was an diesem Ort geschehen ist.
Der Hasser sitzt im Gefängnis, der Hass lässt sich nicht wegsperren.
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Hier können Sie unseren Live-Blog zum Anschlag in Halle nachlesen.
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