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Häme statt Trauer: So reagieren die USA auf die Ermordung des Krankenkassen-Chefs

Gewalt in den USA

USA spotten über Ermordung von Krankenkassen-Chef

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    In Gestrüpp und Laub suchte die Polizei im New Yorker Central Park nach Spuren des Täters.
    In Gestrüpp und Laub suchte die Polizei im New Yorker Central Park nach Spuren des Täters. Foto: Ted Shaffrey, dpa/AP

    Der Moderator der satirischen „Daily Show“ testete die Grenzen aus, als er in seiner Sendung über den Täter des bisher ungeklärten Mordes spekulierte. Opfer war der 50-jährige Chef der privaten Krankenkasse United Healthcare, Brian Thompson. Der Familienvater war am frühen Mittwochmorgen mitten in New York auf offener Straße erschossen worden. „Die Polizei muss einfach nur ihre Verdächtigenliste auf alle Amerikaner eingrenzen, die ihre Krankenversicherung hassen und Zugang zu Waffen haben“, witzelte Ronny Chieng und fügte ätzend hinzu: „Das sollte schnell gelöst sein.“

    Der Kommentar ist ebenso bissig wie der öffentliche Diskurs, der sich nach dem Attentat entwickelt hat. Was in anderen Ländern eine Welle der Anteilnahme auslösen würde, mündet in den USA in Spott, Memes und einen Sturm der Entrüstung über das System, das Thompson repräsentierte. Abzulesen an den mehr als 66.000 Lach-Emojis, mit denen Facebook-Nutzer etwa eine Stellungnahme des Versicherers zu dem Verbrechen kommentierten, die 192 schockierte Reaktionen bei Weitem übertrafen.

    Die Polizei nennt offiziell kein Motiv für die Tat, informierte die Öffentlichkeit aber über Inschriften auf den am Tatort gefundenen Patronenhülsen. Darauf stehen die Worte „Depose“, „Deny“ und „Defend“, was auf Deutsch so viel wie Ablehnen, Verweigern und Rechtfertigen heißt. Eine offenkundige Anspielung auf einen Bestseller von 2010, der sich kritisch mit dem Geschäftsmodell amerikanischer Krankenversicherer auseinandersetzt.

    Krankenkassen in den USA: Die Gewinnmaximierung steht im Vordergrund

    Das Gesundheitssystem in den USA unterscheidet sich grundlegend von den meisten anderen westlichen Ländern. Im Arbeitsleben dominieren private Krankenversicherer den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Diese richten sich nicht in erster Linie nach den Bedürfnissen der Patienten, sondern sind auf Gewinnmaximierung ausgerichtet. 

    United Healthcare selbst ist der größte private Krankenversicherer in den USA und betreut als Branchenprimus über 50 Millionen Versicherte. 2023 erzielte das Unternehmen einen Umsatz von 281 Milliarden Dollar. Spitzenreiter ist der Versicherer laut einer Analyse von Value Penguin auch bei der Ablehnung eingereichter Ansprüche: In rund einem Drittel der Fälle wollte das Unternehmen demnach nicht zahlen.

    Das muss man wissen, um die Reaktionen auf den Mord in den sozialen Netzwerken einzuordnen. Auf der Plattform X sammelte ein Post fast 100.000 „Likes“, der den bisher unbekannten Täter als „Volkshelden“ bezeichnete. Ein anderer Nutzer schrieb, er habe die Nachricht von dem Mord gelesen, „während ich gerade mit United Healthcare telefoniert habe, weil sie meine Medikamente nicht genehmigen wollten. Welch eine Ironie.“

    US-Amerikaner sauer auf Krankenkasse United Healthcare: Viel Bürokratie, wenig Leistung

    Auf Instagram benutzte ein Nutzer die Ausdrucksweise der Versicherer: „Sorry, aber für Gedanken und Gebete ist eine vorherige Genehmigung erforderlich.“ Auch ein Notfallpfleger auf TikTok zeigte wenig Sympathien: „Was ich bei sterbenden Patienten gesehen habe, denen die Versicherung Hilfe verweigert hat, macht mich körperlich krank. Ich kann einfach kein Mitleid für ihn empfinden.“ Und auf Reddit sorgte die bissige Parodie einer Krankenschwester für Klick-Rekorde. „Wir verstehen, dass Sie stark bluten, aber dies entbindet Sie nicht von der Pflicht, kostengünstigere Behandlungsoptionen zu prüfen.“

    Das System der Privatversicherung ist in den USA von kafkaesker Bürokratie geprägt. Trotz hoher Prämien leistet es vergleichsweise wenig. „Es geht darum, Kosten zu senken und Gewinne zu erzielen“, erklärt der Experte Matthew Holt in der Washington Post. „Die Ablehnung von Leistungen ist dabei keine Panne, sondern eine Funktion.“

    Mord an Versicherungschef: Konflikte werden in den USA nicht mehr friedlich gelöst

    Die Strategien, mit denen Versicherungen Leistungen verweigern, sind vielfältig: „Prior Authorization“ verlangt von Ärzten zusätzliche Dokumente, um Behandlungen zu rechtfertigen. „Step Therapy“ zwingt Patienten, zunächst günstigere Medikamente auszuprobieren, bevor teurere Therapien genehmigt werden. 

    Die Folgen sind für viele Amerikaner verheerend. Ein abgelehnter Anspruch kann Familien in den finanziellen Ruin treiben. Eine Umfrage der KFF-Stiftung ergab, dass 60 Prozent der Amerikaner in einem Jahr Probleme mit ihrer Krankenversicherung hatten. Der Mord an dem Manager von United Healthcare verweist nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Robert Pape auf ein Problem, das weit über den Frust mit dem Gesundheitssystem hinausweist. „Die Gewalt ist Ausdruck einer Gesellschaft, die ihre Konflikte nicht mehr friedlich zu lösen weiß,“ meint Pape. Sie habe jetzt auch den kommerziellen Sektor erreicht. 

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    5 Kommentare
    Wolfgang Leonhard

    Wie man sich bettet, so liegt man. Die Amerikaner wollen das doch genau so. Aber zu viele fangen erst an zu denken, wenn sie selbst betroffen sind.

    Gerold Rainer

    Ich werde niemals einen Mord verherrlichen, aber ein Geschäftsleiter, der zur Profitoptimierung dringend notwendige Behandlungen verweigete und Patienten mit Schikanen abgespeist hat, nahm billigend menschliches Leid in Kauf. Einige Versicherte sind wegen diese Geschäftsgebahrens vielleicht auch vorzeitig verstorben. Der CEO muss über Jahre hinweg alle Beschwerden konsquent ignoriert haben. Von wegen Opfer und Täter,so einfach ist das mit der Ethik nicht. Die dringende Warnung an jeden kann nur sein, niemals einen Konflikt eskalieren zu lassen, vor allem dann nicht, wenn man glaubt, eine Machtposition würde unverwundbar machen.

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    Wolfgang Boeldt

    Neben Ihren Spekulationen, wie z.B. " ... vielleicht auch vorzeitig verstorben" ist die Optimierujng des Geschäftserfolges bei privaten, nicht bei staatlichen, Unternehmen an oberster Stelle. Im übrigen glaube ich, daß man auch in den USA eine Versicherung wechseln kann, wenn sie den eigenen Ansprüchen nicht genügt.

    Rolf Kalo

    Warum hat der Artikel eine andere Überschrift als in der gedruckten Ausgabe?

    Gabriele Grün

    Es ist sehr schade, dass es soweit gekommen ist. Es zeigt aber nur, wohin die Profitgier führt. Meine Befürchtung wäre, dass die Häme- und Hasswelle auch nach Europa überschwappt.

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